logo geist+materie



 

1. Intentionalität

1.1. Der Begriff des Geistigen

,Geist‘ ist ein tradierter Begriff, entstanden aus der Vorstellung vom Atem als Lebenshauch (psyché, spiritus), der dem Leib Lebendigkeit verleiht und ihn beim Sterben verlässt. Damit mehr oder weniger eng verbunden ist der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Der neuzeitliche Geistbegriff geht wesentlich auf Descartes zurück. Er verwendet die Worte Geist und Seele synonym:

„Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d.h. Geist, Seele, Verstand, Vernunft...“ (res cogitans, id est mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio) [1]

Der Geist wird von Descartes als unteilbar vorgestellt:

„...dass zwischen Geist und Körper insofern ein großer Unterschied besteht, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist. […] Auch darf man nicht die Fähigkeiten des Wollens, Erkennens usw. als seine Teile bezeichnen, ist es doch ein und derselbe Geist, der will, empfindet und erkennt.“ [2]

In der modernen Philosophie wird der Geist kaum noch in dieser religiös bestimmten Weise, als das Gegenstück zum sterblichen Leib, aufgefasst. Wenn heute in wissenschaftlichen Kontexten vom Geistigen oder vom Mentalen die Rede ist, dann ist oft eine Eigenschaft gemeint, durch die eine Klasse von Zuständen oder Ereignissen im Bewusstsein (und eventuell, je nach Theorie, im Gehirn) ausgezeichnet ist. Ein zentrales Merkmal mentaler Zustände wie Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche usw. ist, dass sie uns bewusst sind. Es versteht sich, dass im Gehirn viele Vorgänge unbewusst ablaufen und dass diese das bewusste Erleben und das Verhalten beeinflussen können. Der Einfachheit wegen wollen wir alle unbewussten Gehirnzustände und -prozesse vorläufig als physisch ansehen (später wird sich zeigen, dass ihnen ein bestimmtes Merkmal des Geistigen zueigen sein kann).

Der moderne, wissenschaftliche Geistbegriff stimmt mit dem traditionellen (und dem Descartes’) jedoch darin überein, dass das Geistige als eine einzige Eigenschaft oder als ein einziges Phänomen und nicht als mehrere, voneinander verschiedene angesehen wird. Zwar wird zwischen Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen, Erinnern usw. unterschieden, aber als ‘geistige’ oder ‘mentale’ Phänomene werden diese Erscheinungen deshalb bezeichnet, weil ihnen einunddasselbe Merkmal zugesprochen wird, nämlich geistig (oder mental) zu sein. Anders ausgedrückt: Das Geistige wird als eine natürliche Art angesehen.

Dagegen ist die These, die ich auf dieser Website begründen will, folgende: Das Geistige ist keine natürliche Art, und die falsche Auffassung des Geistigen als natürliche Art ist die Hauptursache für die beiden Schwierigkeiten, mit denen das Projekt der Naturalisierung des Geistes zu kämpfen hat – das Leib-Seele- (oder Gehirn-Geist-) Problem und die Schwierigkeit, die Entstehung des Geistigen aus nichtgeistiger Materie, etwa im Verlauf der Evolution, zu erklären.

Für die weitere Untersuchung benötige ich eine vorläufige Begriffsbestimmung des Geistigen: Gibt es neben der Bewusstheit ein weiteres, entscheidendes gemeinsames Merkmal, das unterschiedliche Phänomene wie Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche und Erinnerungen als eine Art von Phänomenen, nämlich als geistige erscheinen lässt? Ja, ein solches Merkmal gibt es: Sie alle sind ,intentional‘. Der Begriff stammt aus der mittelalterlichen Philosophie und wurde von Franz Brentano im 19. Jahrhundert quasi wiederentdeckt. Brentano schreibt:

„Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, […] was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.“ [3]

Nun mag man einwenden, es gebe Bewusstseinszustände, die von nichts anderem als von sich selbst handeln, etwa Schmerzen, Melancholie oder das Gefühl grundlosen Glücks. Doch auch solche Zustände handeln womöglich von etwas anderem als sich selbst, wenn auch von etwas sehr Allgemeinem: vom Am-Leben- und In-der-Welt-Sein der betreffenden Person. In dem Film „Linie 1“ sagt ein alter Mann: „Wenn ich morgens aufwache und mir nichts weh tut, dann weiß ich: Ich bin tot.“

Wie dem auch sei, die Frage, ob es nicht-intentionale Bewusstseinszustände gibt, ist in unserem Zusammenhang unwichtig. Es genügt, dass Intentionalität ein hinreichendes (wenn auch vielleicht kein notwendiges) Kriterium für Geist ist. Das ist deshalb ausreichend, weil ich nicht beweisen will, dass das Geistige vom Materiellen grundverschieden ist, sondern vielmehr die Gemeinsamkeiten von beidem ausfindig machen will. Darum halte ich mich einfach an Brentano und sage: Alles, was geistig ist, ist auch intentional. In einem Punkt allerdings stimme ich nicht mit Brentano überein: Im nächsten Abschnitt werde ich behaupten, dass es physische Entitäten gibt, die zumindest in einem gewissen Sinne intentional sind.

 

nach oben

nächste Seite


Fußnoten

  1. René Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641); zitiert nach Descartes, René, Meditationen über die Grundlagen der Philosphie, Hamburg 1959, S. 47.  [⇑]
     
  2. ebenda, S. 153 f.  [⇑]
     
  3. Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. 1874, S. 124.
    Es ist nicht ganz klar, weshalb Brentano von „In-existenz“ spricht. Wollte er betonen, dass das Obekt in dem mentalen Zustand enthalten ist, oder wellte er auf die seltsam widersprüchliche Art dieser Existenz hinweisen und zum Ausdruck bringen, dass es sich in gewisser Weise um eine Nicht-Existenz handelt?  [⇑]