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3.5. Evolution: Das Lernen der Gattung

Im Abschnitt 2.4 hatte ich gesagt, dass Informationen an sich keine Zeichen sind und keine Bedeutungen tragen. Sie werden erst dadurch zu Zeichen und erhalten erst dadurch Bedeutungen, dass sie verstanden werden. Verstehen heißt, Informationen in einem Wissenskontext zu interpretieren. Verstehen ist der Akt, durch den Informationen für ein verstehendes Wesen zu Zeichen werden – zu Zeichen, die etwas bedeuten, und zwar nicht an und für sich, sondern für das verstehende Wesen [1]. Rauch ist ein Zeichen für Feuer nur für ein Wesen, das bereits weiß, dass Rauch durch Feuer entsteht. Der Wissenskontext, der das Verstehen ermöglicht, muss also vorhanden sein.

In diesem Abschnitt soll es nun darum gehen, wie Lebewesen – auch solche ohne Gehirn und Nervensystem – Wissen erwerben. Im Abschnitt 3.1 war bereits die Rede von jener Art Wissen, das sich in sinnvollem, zweckmäßigem Verhalten äußert und das in den Strukturen repräsentiert ist, die das betreffende Verhalten ermöglicht oder steuern. Wenn ein Lebewesen in einer Situation, also aufgrund der Informationen, die es über die Situation bekommt, zweckmäßig verhält – so, dass es seine Überlebens- und Fortpflanzungschancen vergrößert oder nicht verringert – dann müssen wir ihm wohl zugestehen, dass es die Situation versteht.

Woran,sonst sollte Verstehen erkennbar sein, wenn nicht am richtigen Verhalten? Nun hat aber John Searle in seinem berühmten Gedankenexperiment vom „Chinesischen Zimmer“ gezeigt, dass richtiges Verhalten von Maschinen ohne semantisches Verstehen möglich ist – auf der Grundlage von Symbolverarbeitung, wie wir sie z.B. in Computern finden. Symbole – Zeichen – setzen aber, wie oben dargelegt, bereits Verstehen voraus. Im Computer und im Chinesischen Zimmer ist es der verstehende Mensch, der die Programme bzw. das Regelwerk schreibt, wonach die Symbole manipuliert werden. Das ,richtige‘ Verhalten von Maschinen beruht also allein auf menschlichem Verstehen [2].

Wie entsteht nun das Wissen, das in der Struktur eines Lebewesens repräsentiert ist und das ihm das Verstehen, das selbständige Interpretieren von Information ermöglicht? Das es ihm erlaubt, sich seinen eigenen Zielen und Zwecken gemäß zu verhalten? Wissen wird natürlich durch Lernen erworben – denn als Lernen bezeichnen wir gewöhnlich den Erwerb von Wissen, welches uns dazu befähigt, Informationen richtig zu verstehen und uns richtig zu verhalten, richtig zu handeln, eine Sache richtig zu machen.

Eine weit verbreitete Form des Lernens in der Natur (und auch in der menschlichen Kultur) ist das Lernen durch Belohnung und Strafe: Tiere, die zumindest Schmerz empfinden können, auch wenn sie sonst kein phänomenales Erleben haben, können durch den Schmerz lernen, die Ereignisse, die mit Schmerzerleben verbunden sind, zu meiden. Es handelt sich hier also um individuelles Lernen, d.h. um den Erwerb von nicht angeborenem Wissen, um das Erlernen eines Verhaltens, das nicht durch angeborene Programme (,Instinkte‘) gesteuert wird. Zu individuellem Lernen sind nur Wesen fähig, die phänomenales Erleben besitzen. Der große Vorteil des individuellen Lernens ist, dass es die rasche Anpassung an neue Umweltbedingungen ermöglicht.

Das individuelle Lernen ist das, was wir gewöhnlich meinen, wenn wir von Lernen sprechen. Da es, wie gesagt, auf bewusstem Erleben beruht, werde ich es später ausführlich im Kapitel über Bewusstsein behandeln. Hier ist aber wichtig festzustellen, dass individuelles Lernen den Aufbau oder die Formung von Strukturen bewirkt, die das erlernte Wissen repräsentieren. Das sind hier natürlich vor allem Strukturen im Gehirn, zumal alle Lebewesen mit phänomenalem Erleben wohl ein Gehirn besitzen [3]. Doch auch der übrige Körper ist zum Lernen fähig und passt sich an Aufgaben an – das nennen wir dann Training. Man denke etwa an Leistungssportler oder an die Hände von Pianisten.

Wenden wir uns nun dem Lernen, dem Wissenserwerb jener Lebewesen zu, die Bewusstsein, kein Gehirn, noch nicht einmal ein einfaches Nervensystem haben. Zum individuellen Lernen sind sie, abgesehen vielleicht von Trainingseffekten, nicht fähig. Das Lernen, das wir hier vorfinden, und das wir meist Evolution nennen, bezeichne ich, im Unterschied zum individuellen Lernen, als ,Lernen der Gattung‘: Eine Pflanzen- oder Tierart lernt dadurch, dass, salopp gesagt, die Dummen aussterben: Diejenigen Individuen, deren Struktur weniger optimal ist und die sich deshalb öfter ,falsch‘ verhalten, haben statistisch geringere Überlebens- und Fortpflanzungschancen.

Mit ,Struktur‘ ist hier die gesamte Form und Struktur eines Lebewesens gemeint – die äußere und innere und auch jene Strukturen im Inneren, die das Verhalten steuern, also Nervensystem und Gehirn, wenn vorhanden. Alle diese Formen und Strukturen, von den gröbsten bis zu den feinsten, tragen zum ,richtigen‘ Verhalten des Lebewesens bei, und in allen ist Wissen darüber repräsentiert, wie dieses Verhalten ermöglicht und gesteuert werden kann.

Die Entwicklung der Formen und Strukturen ist also zugleich Akkumulation von Wissen: von Wissen darüber, wie diese Formen und Strukturen – übrigens nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Art – beschaffen sein, müssen, damit sie ihre Zwecke im Rahmen der Lebenserhaltung in einer gegebenen Umwelt erfüllen. Dabei besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Struktur einer Zelle, der DNS-Struktur, den Formen und Strukturen von Knochen, Muskeln, Blutbahn oder Verdauungssystem und den Strukturen im Gehirn. Eine Besonderheit der letzteren ist nur, dass sie leichter veränderbar sind – nicht nur durch Mutation, sondern auch durch Sinneswahrnehmung und individuelles Lernen.

Zwar sagen wir gewöhnlich nur von den Gehirnstrukturen, und vielleicht von der DNS, dass sie Wissen repräsentieren [4]. Doch das ist nicht richtig, denn alle Formen, alle Strukturen, die es ermöglichen, einen Zweck oder ein Ziel zu erreichen, repräsentieren Wissen: das Wissen, dass sie so und so geformt oder strukturiert sein müssen, um den Zweck zu erreichen. Deshalb ist die immer perfektere Anpassung der Formen und Strukturen der Lebewesen an den Zweck des Überlebens im Verlauf der Evolution eine Akkumulation von Wissen und also ein Lernen.

Etwas Ähnliches finden wir im Bereich der Artefakte: Vergleicht man zum Beispiel die ersten Automobile, die motorisierten Kutschen glichen, mit modernen Autos, dann ist klar, dass in den letzteren – sowohl in der äußeren Gestaltung als auch in der Struktur von Motor, Getriebe oder Elektronik sehr viel mehr Wissen darüber steckt, wie der Zweck optimal erfüllt werden kann. Auch hier repräsentieren die Formen und Strukturen dieses Wissen, doch es handelt sich um menschliches Wissen, nicht um Wissen, das wir den Autos selbst zuschreiben. Und es ist auch klar, wer hier gelernt hat: die Autokonstrukteure und -designer (siehe dazu auch den Exkurs unten).

Wem aber sollen wir das evolutive Lernen zuschreiben, wenn Lebewesen ohne Bewusstsein nicht zu individuellem Lernen fähig sind? Es scheint mir am passendsten, hier von einem Lernen der Gattung zu sprechen. Das Wissen, das dabei erworben wird, ist also Wissen der Gattung, sozusagen kollektives Wissen, das an die einzelnen Nachkommen vererbt wird, und das in ihnen (mehr oder weniger vollständig) als Struktur repräsentiert ist. Insofern ist es auch Wissen des einzelnen Lebewesens, denn es ist das Individuum, das sich aufgrund dieses Wissens ,richtig‘ verhält und seine Umgebung versteht.

Wenn also im Weiteren vom Lernen der Lebewesen die Rede ist, dann ist nicht nur das individuelle Lernen gemeint, sondern auch das Gattungslernen, d.h. die Evolution verhaltensbestimmender Strukturen durch Mutation und Selektion. Und auch wenn manche Strukturen, z.B. Gehirne, bei der Verhaltenssteuerung eine zentrale Rolle spielen – verhaltensbestimmend ist letztlich die Gesamtheit der Formen und Strukturen eines Lebewesens.

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3.5.1. Exkurs: lernende Maschinen

Mancher wird nun einwenden, dass es Maschinen gibt, die zu selbständigem Lernen fähig sind, z.B. mit Hilfe künstlicher neuronaler Netze. Solche Netze sind für uns von besonderem Interesse, weil sie nicht-symbolisch arbeiten (darin unterscheiden sie sich von Computern und ähneln Gehirnstrukturen), und weil die das System ,trainierenden‘ Menschen keinen Einblick in die von der Maschine erlernten Lösungswege haben. Es scheint also nach dem Lernprozess ein Wissen in der Maschine zu stecken, das kein menschliches Wissen ist.

Wir müssen uns hier zuerst fragen, was Maschinen sind und was ihr Platz in der Welt ist. Im Abschnitt 1.3 wurde bereits dargelegt, dass Artefakte physische Manifestationen des menschlichen Geistes sind – Ausdruck menschlicher Zwecke und Bedürfnisse. Von Werkzeugen und Maschinen im Besonderen können wir sagen, dass sie gewissermaßen Erweiterungen des menschlichen Körpers sind: Der Specht hackt mit seinem Schnabel ein Loch ins Holz – wir haben dafür Hammer und Meißel. Die Spinne erzeugt einen Faden mit ihren Spinndrüsen – der Mensch hat dafür zuerst die Handspindel (auch das ist bereits eine einfache Maschine!), dann das Spinnrad und schließlich die Spinnmaschine erfunden. Der Vogel fliegt mit seinem Schwingen, Umbildungen seiner Gliedmaßen – wir benutzen Maschinen. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen.

Maschinen sind also Erweiterungen unserer physischen Möglichkeiten. Das gilt auch für Rechenmaschinen und andere Apparaturen mit ,künstlicher Intelligenz‘: Sie sind Erweiterungen unseres Gehirns, und sie ermöglichen es uns, geistige Tätigkeiten schneller und genauer auszuführen und an Orten, wo Menschen nicht leicht hingelangen können, z.B. im Weltall. Dasselbe gilt für Maschinen allgemein in Bezug auf physische Tätigkeiten.

Wenn also Maschinen so etwas sind wie künstliche Glieder unseres Körpers, dann kann ich das Training einer lernfähigen Maschine vergleichen mit dem Training der Glieder Körpers. Das Ziel ist in beiden Fällen durch mein Bedürfnis vorgegeben: Ich will eine Tätigkeit auszuführen lernen, und zwar in der erforderlichen Genauigkeit und Schnelligkeit. Wenn ich z.B. Klavierspielen trainiere, dann führt dies allmählich zu Veränderungen sowohl in der Struktur meiner Hände (Muskeln werden kräftiger, Gelenke werden beweglicher) als auch in der Struktur meines Gehirns (sagen wir, es bilden sich neue Verschaltungen).

Wie diese Strukturveränderungen in den Muskeln und im Gehirn sich genau vollziehen und welche es sind, davon habe ich keine Ahnung. Ich merke nur, dass ich – Musikalität vorausgesetzt – allmählich immer besser Klavier spiele. Beim Training des Schachspiels, einer rein geistigen Tätigkeit, wäre es nicht anders: Mit der Zeit würde ich (die nötige Intelligenz vorausgesetzt) immer besser spielen, ohne zu wissen, welche Veränderungen in der Struktur meines Gehirns dies bewirken.

Beim Trainieren eines künstlichen neuronalen Netzwerkes ist es ebenso: Wir beobachten nur, dass die Maschine die Aufgabe immer besser ausführt, ohne genau zu wissen, welche inneren strukturellen Veränderungen dies ermöglichen. Im Falle des Trainings von Klavier- oder Schachspiel ist das erworbene Wissen – auch das implizite, prozedurale Wissen – natürlich mein Wissen. Ich bin es, der nun besser (oder überhaupt) Klavier oder Schach spielt. Wenn aber Maschinen nichts als künstliche Erweiterungen des menschlichen Körpers sind, dann ist das in lernfähigen, von Menschen trainierten Maschinen repräsentierte Wissen menschliches Wissen.

Bei allen Formen des Maschinenlernens ist es der Mensch, der nach seinen Wünschen und Bedürfnissen das Endziel des Lernens festlegt – den Weg dorthin, d.h. die beste innere Struktur und Konfiguration dafür kann die Maschine dann selbst finden. Der Zweck kann auch rein wissenschaftlich sein: die Lernfähigkeit eines künstlichen neuronalen Netzes zu testen. Doch auch dann handelt es sich um einen menschlichen Zweck. Wer ist Stolz auf den Sieg des Schachcomputers – er ,selbst‘ oder seine menschlichen Schöpfer? Sie sind es letztendlich, die mit Hilfe ihrer Maschine gesiegt haben. Fazit: Maschinen lernen nicht wirklich autonom, nicht ,auf eigene Rechnung‘, und das Wissen und Können, das beim Maschinenlernen gewonnen wird, ist menschliches Wissen und Können.

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Fußnoten

  1. Dass Zeichen auch objektive Bedeutungen, also Bedeutungen an und für sich haben können – wie etwa die Buchstaben bestimmte Laute bedeuten oder die Verkehrszeichen bestimmte Hinweise, Gebote oder Verbote – das ist das Ergebnis von Kommunikation, die zur Herausbildung von Zeichensystemen (Sprachen) führt. Die (scheinbar) objektiven Bedeutungen beruhen letztlich auf der Übereinkunft innerhalb einer Sprach- oder Kommunikations-Gemeinschaft. Dass solche Bedeutungen nur scheinbar objektiv sind, erkennt man daran, dass ein und dasselbe Zeichen in verschiedenen Sprachgemeinschaften, ja sogar schon in verschiedenen Kontexten innerhalb einer Sprachgemeinschaft ganz verschiedene Bedeutungen haben kann.  [⇑]
     
  2. Searle, J. (1980). Minds, Brains, and Programs. Behavioral and Brain Sciences 3, 417–457  [⇑]
     
  3. Es ist falsch zu glauben, dass in Gehirn durch Lernen gewissermaßen nur die ,Software‘ weiterentwickelt würde. In Gehirnen gibt es keine Trennung in Hardware und Software – es ist sozusagen alles Hardware, aber diese Hardware ist ziemlich soft, also veränderbar – zumindest, was die Großhirnrinde betrifft. Lernen ist also Anpassung der Struktur.  [⇑]
     
  4. Kreationisten allerdings verweisen gern auf die Zweckmäßigkeit, mit der Tiere und Pflanzen gestaltet sind, und meinen dann, nur ein allwissender Schöpfer könne das vollbracht haben. Sie haben (zumindest) insoweit Recht, als tatsächlich schon in einem winzigen Bakterium eine erstaunliche Fülle an Wissen steckt, und es stellt sich die Frage: Um wessen Wissen handelt es sich hier?  [⇑]
     

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