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3.2. Lebendiges und Lebloses,

Im vorigen Abschnitt hatten wir Wissen als Information, d.h. als Form oder Struktur bestimmt, die einem Ding oder System die Fähigkeit verleiht, sich ,richtig‘, d.h. einem Ziel oder Zweck gemäß zu verhalten. Da auch Moleküle wie die DNS oder Maschinen, ja selbst einfache Werkzeuge in diesem Sinne Wissen besitzen, ist Wissen weder an ein Gehirn noch überhaupt an ein biologisches Substrat gebunden. Aber Wissen scheint an etwas anderes gebunden zu sein: an Ziele oder Zwecke, die durch das jeweilige Wissen erreicht werden,

Auch ein Schneekristall verhält sich aufgrund seiner strukturellen Eigenschaften – also aufgrund der in ihm enthaltenen Information – in einer bestimmten Weise – nämlich so, dass weitere Wassermoleküle andocken und die regelmäßige Kristallstruktur ‘wachsen’ lassen. Aber dieses Verhalten des Kristalls erfüllt keinen Zweck, denn der Schneekristall als solcher hat in der Natur weder Zweck noch Ziel (wiederum unter der Voraussetzung, dass die Natur nicht die Schöpfung eines intelligenten Designers ist).

Schneekristalle, Wolken, Steine, Planeten oder Sterne sind Dinge, die durch natürliche Ursachen entstanden und nun einfach da sind, denen wir aber keine Ziele oder Zwecke zuschreiben. Maschinen und Werkzeuge dagegen haben Zwecke, und Lebewesen, so scheint es, haben zumindest das Ziel, am Leben zu bleiben und sich fortzupflanzen – jedenfalls verhalten sie sich regelmäßig so. Höher entwickelte Tiere haben anscheinend – ihrem Verhalten nach zu urteilen – weitere, speziellere Ziele, zum Beispiel das Ziel, Schmerz zu vermeiden.

Die in Maschinen, Werkzeugen und anderen Artefakten enthaltene Information wurde im Abschnitt 1.3 ausführlich behandelt. Ihre Formen und Strukturen resultieren aus den Zwecken, denen sie dienen sollen, und diese Zwecke resultieren aus den Zielen der Menschen – aus dem allgemeinen Zielen, am Leben zu bleiben, sich fortzupflanzen und Leid zu vermeiden, und den vielen, sich daraus ergebenden speziellen Zielen. In ähnlicher Weise können wir die zweckdienlichen Formen und Strukturen unseres Körpers und seiner Teile verstehen: Auch sie dienen den allgemeinen Zielen des Überlebens, der Fortpflanzung und der Leidvermeidung.

Auch für Lebewesen ganz allgemein können wir sagen: Die zweckhaften Formen und Strukturen dienen ihrem Überleben, ihrer Fortpflanzung, und,auch die Fortpflanzung dient letztlich nur dem Ziel des Überlebens als Spezies. Die entscheidende Frage im Hinblick auf den seltsam ‘teleologischen’ Charakter der Lebewesen ist also: Wieso – oder woher – haben Lebewesen das Ziel, zu überleben? Oder ist es falsch, hier von einem Ziel zu sprechen?

Fragen wir zunächst, was Leben überhaupt ist [1]: Es ist ein – physikalisch gesehen ziemlich unwahrscheinlicher – Zustand, der durch die Homöostase gekennzeichnet ist, ein sich selbst regelndes, instabiles Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist ziemlich fragil, und es zu verlieren bedeutet das meist irreversible Zurückfallen in den physikalisch ‘normaleren’ Zustand lebloser Materie. Aus-dem-Gleichgewicht-Kommen, Verlust der Homöostase bedeutet Tod. Ein Lebewesen ist nur solange ein Lebewesen, wie es ihm gelingt, dem Tod zu entgehen.

Die ‘Zielgerichtetheit’ der Lebewesen ist also nur die Antwort auf eine andere, umgekehrte Zielgerichtetheit: der Tatsache, dass das ‘Ziel’ allen Lebens der Tod ist – das letztendliche Zurückfallen in den physikalisch wahrscheinlicheren Zustand der Leblosigkeit. Der Kampf ums Überleben ist der Kampf gegen dasjenige, dem zugleich jedes Lebewesen unweigerlich zustrebt. Diese Komponente der Zielgerichtetheit von Lebewesen – die Tendenz zum Zerfall, zur Auflösung der Komplexität, also in Richtung der Zunahme der Entropie – hat nichts Überraschendes; sie fügt sich problemlos in unser Bild der physikalischen Welt ein [2].

Stellen wir also fest: Mit dem Leben tritt auch das Sterben in die Welt Es ist die stets gegebene Möglichkeit des Todes, welche die Grundlage dafür bildet, dass Lebewesen ihr Ziel in sich selbst haben: das Ziel, am Leben zu bleiben, den unwahrscheinlichen Zustand ,Leben‘ – die Homöostase – aufrecht zu erhalten und die eigene Struktur (Information) zu reproduzieren, auszubreiten, zu vervielfältigen. Die scheinbare Zielgerichtetheit des Lebens ist also in Wahrheit paradox: Mit der Entstehung des Lebens wird die ursprüngliche Ziellosigkeit der Naturvorgänge gewissermaßen aufgespalten in die Polarität zweier entgegengesetzter Ziele – Überleben und Sterben – die einander bedingen wie die entgegengesetzten Ladungen von Proton und Elektron im Atom.

Maschinen – mögen sie noch so komplex und ‘intelligent’ sein – haben ihren Ziel niemals in sich selbst, sondern dienen stets menschlichen Zwecken [3]. Ihre Aktivität entspringt nicht aus ihnen selbst, sondern ist menschliche Aktivität – sie sind sozusagen der verlängerte Arm und mittlerweile auch das erweiterte Gehirn des Menschen. Sterne weisen zwar eine Aktivität aus sich selbst heraus auf, aber diese Aktivität hat nicht das Überleben des Sterns zum Ziel, sie dient nicht der Erhaltung und Vervielfältigung der Struktur. Sterne halten keine Homöostase aufrecht, sondern sie verbrennen sich gewissermaßen selbst, so lange, bis ihre Energie aufgebraucht ist. Sterne kämpfen nicht ums Überleben, sondern streben in einem fort dem Ende zu, das ihnen aufgrund ihrer Masse vorherbestimmt ist – dem Ende als schwarzer oder weißer Zwerg, als Neutronenstern oder als schwarzes Loch.

Fassen wir zusammen: Wir haben nun sowohl den Unterschied zwischen Lebewesen und leblosen Naturdingen als auch den zwischen Lebewesen und Artefakten bestimmt. Lebewesen haben ein Ziel und einen Zweck in sich selbst: zu überleben und das Leben – den Zustand und die zugrunde liegende Struktur/Information – weiterzugeben. Leblose Naturdinge haben keine Ziele oder Zwecke, und Produkte menschlicher Tätigkeit haben keine eigenen Ziele, sondern dienen menschlichen Zwecken.

Lebewesen, so hatten wir festgestellt, sind gekennzeichnet durch ein inneres dynamisches Gleichgewicht, die Homöostase, die auf Selbstregulation beruht. Betrachten wir nun die Struktur, die die Homöostase ermöglicht, dann finden wir, dass Lebewesen eine strukturelle Besonderheit aufweisen: Einerseits haben sie eine mehr oder weniger feste Außenhülle und sind klar umgrenzt wie ein fester Körper, Andererseits sind sie in ihrem Inneren flüssig – im Zellinneren, aber auch z.B. im Inneren des Verdauungstrakts und der Blutgefäße der Tiere oder.der Wasserleitungsbahnen der Pflanzen. Das ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Lebewesen vereinen in ihrer Struktur die Vorteile zweier Aggregatzustände: Sie sind fest und flüssig in einem.

Das flüssige Innere vor allem der Zellen ermöglicht die chemischen Reaktionen, die für das Leben konstitutiv sind. Die feste Hülle aber grenzt das Innere des Lebewesens von der Umgebung ab und macht es dadurch überhaupt erst den Austausch von Stoffen und Energie zwischen beiden möglich. Dieser ständige Austausch bewirkt aber auch, dass Änderungen in der Umgebung, z.B. der Temperatur oder der Konzentration von Stoffen auch zu Änderungen im Inneren des Lebewesens führen. Dabei muss das Lebewesen seine Homöostase, sein inneres Gleichgewicht aufrecht erhalten: Seine Selbstregulation muss dafür sorgen, dass die Schwankungen im Inneren gewisse Grenzwerte nicht überschreiten. Eine starke Veränderung in der Umgebung kann daher auch zu einer Gegenreaktion im Inneren des Lebewesens führen.

Wir können daher sagen: Das Innere eines Lebewesens reagiert ,sensibel‘ auf die Umgebung. Wir können auch sagen: Das Innere eines Lebewesens spiegelt die Umgebung in gewisser Weise wider – allerdings anders als ein gewöhnlicher Spiegel: Der gewöhnliche Spiegel verändert sich selbst nicht durch das, was er spiegelt – das Innere eines Lebewesens dagegen spiegelt Veränderungen in der Umgebung wider, indem es sich selbst verändert.

Das wäre freilich trivial, wenn die Änderung im Inneren der Änderung im Äußeren nur folgen würde – auch ein Stein erwärmt sich allmählich in seinem Inneren, wenn er von der Sonne beschienen wird. Das allein ist es aber gerade nicht; Wenn in einem Lebewesen die Temperatur im Inneren zu stark ansteigt, dann muss es entweder gegensteuern und aktiv Wärme abführen, um die Homöostase aufrecht zu erhalten (andernfalls würde es sterben). Die Änderungen im Inneren eines Lebewesens sind also niemals nur die Folge der äußeren Veränderungen, sondern werden letztlich bestimmt durch die Selbstregulation zur Aufrechterhaltung der Lebensvorgänge.

Zwar sind auch manche künstlichen Systeme, z.B. eine Zentralheizung, zu einer gewissen Selbstregulation fähig. Aber hier ist es der Mensch, der die Soll- und Grenzwerte nach seinen Bedürfnissen einstellt. Deshalb handelt es sich um keine echte Selbstregulation. Wir werden diesen Unterschied zwischen Lebewesen und technischen Systemen später noch genauer betrachten. Halten wir fest, dass Lebewesen in ihrem inneren Zustand ihre Umgebung widerspiegeln, dass sie dies jedoch auf eine aktive und eigenwillige Art tun.

 

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Fußnoten

  1. Es soll hier keine Definition des Begriffes ,Leben‘ gegeben werden – uns interessieren mehr die Unterschiede zwischen Lebewesen und nicht lebenden Dingen. Es spricht manches dafür, dass auch ,Leben‘ (ebenso wie m.E. ,Geist‘) keine natürliche Art ist, sondern ein Bündel von Merkmalen, die nicht immer alle zugleich und in allen Teilen eines Lebewesens vorhanden sein müssen. So schreibt etwa Lucas Mix (2014):
        „Es kann sein, dass Leben keine natürliche Kategorie, sondern nur ein brauchbarer Begriff für die Beschreibung der Aktivitäten von Organismen ist. […] So ist z.B. auch ,Stuhl‘ brauchbar, um Möbelstücke zu beschreiben, ungeachtet der Tatsache, dass eine klare Unterscheidung, anhand der man eindeutig Stühle und Nicht-Stühle identifizieren könnte, nicht gegeben werden kann. Vielleicht ist ,Leben‘ einfach eine brauchbare Weise, eine gewisse Menge von Objekten und Prozessen auf der Erde zu beschreiben.“ (Mix, L. J., Proper activity, preference, and the meaning of life. Philosophy, Theory, and Practice in Biology, 6, 01; S. 12 im PDF, übersetzt von mir). Auch Jiri Benovsky (2017) meint: „Leben, denke ich, ist besser verstanden, wenn man es nicht für eine natürliche Art hält.“ (Benovsky, J., Nothing is alive. Think 16, 115-125; S. 6 im PDF, übersetzt von mir).
        Leben scheint das Resultat einer Wechselwirkung von mehreren Prozessen zu sein, von denen jeder einzelne noch kein Leben begründen würde – vielmehr kommen diese Prozesse einzeln auch in lebloser Materie vor.
    Anorganisches Wachstum: Manganoxid Die Abbildung zeigt ein Beispiel für anorganisches Wachstum: mineralische Verästelungen aus Manganoxid auf der Oberfläche von Kalkstein (Foto von Tamás Viscek in Philip Ball: The Self-made Tapestry, Oxford University Press 1999, S. 110)
        Es scheint einen relativ fließenden Übergang zwischen lebloser und lebender Materie zu geben. Anders ist die Entstehung von Lebewesen aus lebloser Materie kaum zu denken. Auch der Tod eines Lebewesens ist ein Prozess des Übergangs: Bäume beispielsweise sterben langsam ab, ihre Blätter können in jedem Herbst absterben, einzelne Äste eines Baumes können absterben, während der Baum weiterlebt. Einen Zustand zwischen Leben und Leblosigkeit scheinen auch pflanzliche Samen zu repräsentieren, die, obwohl ohne erkennbare Lebensprozesse, doch jahrelang keimfähig bleiben.  [⇑]
     
  2. Wenn man nach der Zielgerichtetheit des Lebens fragt, dann drängt sich zugleich die Frage nach der (scheinbaren) Zielgerichtetheit der Evolution auf: Warum haben sich überhaupt lebende Strukturen aus lebloser Materie entwickelt? Warum beobachten wir eine Entwicklung ,vom Niederen zum Höheren‘ oder ,vom Einfachen zum Komplizierten‘? Warum gibt es überhaupt Entwicklung – warum bleibt nicht alles, wie es ist?
        Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir zunächst wieder auf die entgegengesetzte ,Zielgerichtetheit‘ blicken: „denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“, sagt Mephisto in Goethes ,Faust‘. Alle Objekte, alle Ganzheiten bleiben nur so lange bestehen, bis sie zerfallen oder zerstört werden. In diesem Sinne hat ein Stein aus Granit eine größere ,Existenzwahrscheinlichkeit‘ über die Zeit als ein weicher Sandstein. Härte ist das Einzige, was der Stein seiner Zerstörung entgegensetzen kann. Lebewesen setzen ihrem Zerfall und ihrer Zerstörung Aktivität entgegen durch Regeneration, Wachstum, Vervielfältigung – das gilt schon für einfachste Einzeller wie z.B. Bakterien.
        Es sind also gerade die allwaltenden Kräfte des Zerfalls und der Zerstörung, die zugleich – vermutlich nur unter günstigen Bedingungen – die Höherentwicklung in der Natur vorantreiben und Strukturen entstehen lassen, die sich den Kräften der Zerstörung nicht nur passiv, sondern aktiv widersetzen.  [⇑]
     
  3. Das wäre selbst dann der Fall, wenn wir zu rein wissenschaftlichen Zwecken künstliche Systeme erschaffen würden, die über ein Selbsterhaltungs-Programm verfügen, sich selbst mit Energie versorgen, selbsttätig lernen, sich selbst reproduzieren usw., denn auch dieses ‘künstliche Leben’ würde ja unseren wissenschaftlichen Zwecken dienen.
        Dass Maschinen stets menschlichen Zwecken dienen heißt andererseits nicht, dass wir nicht in ihre Abhängigkeit geraten können. Das ist bereits heute allenthalben sichtbar: Obwohl Autos, Computer und Mobiltelefone unseren Zwecken dienen, sind wir (die meisten von uns) in hohem Maße von ihrem Funktionieren abhängig. Mit wachsender ‘Intelligenz’ der Maschinen wird diese Abhängigkeit kaum geringer werden.
        Ein spezieller Fall ist der, dass wir andere Lebewesen – Haustiere und Kulturpflanzen – unseren Zwecken unterwerfen und gewissermaßen biologische Maschinen aus ihnen machen. Zwar werden auch in der Natur Lebewesen von anderen Lebewesen gefressen, also fremden Zwecken unterworfen, aber indem wir Pflanzen und Tiere nach unseren Bedürfnissen züchten und genetisch verändern, repräsentiert ihre Form und Struktur nicht mehr das Wissen, das sie zur Erlangung ihrer ursprünglich eigenen Ziele (Überleben und Fortpflanzen in Freiheit) benötigten, sondern ein Wissen, das der Erfüllung ihnen fremder, menschlicher Zwecke dient. Es ist nicht mehr ihr Wissen, sondern unser Wissen, das sie formt.  [⇑]
     

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