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3.4. Wahrnehmen, Erinnern und Entscheiden

Betrachten wir die Fortbewegung von Bakterien etwas eingehender: Nachdem der Einzeller sich, angetrieben durch eine oder mehrere schnell rotierende Geißeln, eine Weile in eine zufällige Richtung bewegt hat, ändert sich die Rotationsrichtung der Geißel – sie dreht sich gewissermaßen rückwärts. Dies führt zu einer Art Taumelbewegung des Einzellers, der dadurch seine Lage im Raum ändert. Nun rotiert die Geißel wieder ,vorwärts‘, und der Einzeller bewegt sich in eine andere, wiederum zufällige Richtung. Dieser Wechsel von geradliniger Bewegung und Taumeln wiederholt sich immer fort, jedesmal verbunden mit einer zufälligen Änderung der Bewegungsrichtung des Einzellers. Bereits diese ,chaotische‘ Fortbewegung bringt ihm Vorteile: Er entkommt damit einer Anreicherung seiner Ausscheidungen.

Wie wird nun aus der Folge zielloser Richtungsänderungen eine Bewegung in Richtung auf ein Ziel? In der äußeren Membran des Bakteriums befinden sich Rezeptormoleküle, die bis ins Zellinnere hineinreichen. Nährstoffe aus der Umgebung können außen am Rezeptormolekül andocken. Dies führt zu einer Veränderung am anderen, im Zellinneren befindlichen Ende des Rezeptormoleküls. Dies löst eine Reaktionskette aus, die dazu führt, dass die Geißel sich länger in ,Vorwärtsrichtung‘ rotiert, bis es zum Taumeln und zur nächsten Richtungsänderung kommt. Die Richtungsänderungen selbst sind weiterhin vollkommen zufällig, aber die Phasen der Bewegung in Richtung höherer Nährstoffkonzentration sind im Durchschnitt länger (weil mehr Nährstoffmoleküle an den Rezeptoren andocken) als die Bewegungsphasen in entgegengesetzter Richtung.

Die Veränderung eines Rezeptormoleküls durch das Andocken eines Nährstoffs dauert stets nur eine gewisse Zeit: Das Nährstoffmolekül löst sich wieder, der Rezeptor wird in den Ausgangszustand zurückversetzt und ist wieder funktionsfähig. Man kann das als Kurzzeitgedächtnis ansehen: Eine Information von außen bewirkt im Inneren eines Lebewesens eine Veränderung, und diese Veränderung wird nach einer gewissen Zeit wieder gelöscht. Man trifft das auch in der unbelebten Natur an: Eine Fußspur am Meeresstrand wird von den Wellen ausgelöscht. Das Besondere am Kurzzeitgedächtnis des Bakteriums ist aber, dass der Zeitpunkt der Auslöschung durch innere Prozesse bestimmt wird und somit durch die Evolution optimiert werden kann. Unser Kurzzeitgedächtnis ist im Grunde nichts anderes, nur dass wir ein spezielles Organ für die inneren Veränderungen haben, die durch Information bewirkt werden: das Gehirn.

Die Fähigkeit, mit Hilfe von Rezeptormolekülen Substanzen in der Umgebung zu registrieren, die für das Überleben des Bakteriums eine Bedeutung haben, kann man als eine frühe Form von Wahrnehmung ansehen, die freilich nicht in keiner Weise bewusst ist, und die unmittelbar mit einer Reaktion verknüpft ist und nur dadurch einen Sinn erhält. Am Anfang der Entwicklung des Wahrnehmungsvermögens steht also nicht der Rezeptor, sondern die aktive Fortbewegung des Bakteriums und seine Fähigkeit, selbst die Richtung dieser Bewegung zu ändern – wenn auch zunächst nur zufällig. Dies beides – aktive Fortbewegung und aktive Richtungsänderung – musste gegeben sein, damit Information von außen über innere Prozesse die Richtung der Fortbewegung so beeinflussen kann, sodass dies dem Überleben nützt.

Am Anfang sind Wahrnehmung und Reaktion eng miteinander gekoppelt. Trotzdem benötigen die inneren Prozesse dazwischen eine gewisse Zeit, und sie können durch andere innere Prozesse beeinflusst werden. Man stelle sich etwa ein Bakterium vor, das sowohl Rezeptoren für Nährstoffe als auch für Substanzen hat, die das Lebewesen meiden muss (,Schadstoffe‘). Wird ein Schadstoff detektiert, wird die Vorwärtsphase der Geißelbewegung verkürzt; das Taumeln setzt eher ein, mit dem Effekt, dass das Bakterium sich tendenziell in Richtung abnehmender Schadstoffkonzentration bewegt. Was geschieht dann aber, wenn gleichzeitig Nährstoffe und Schadstoffe registriert werden?

In einem solchen, durchaus nicht unwahrscheinlichen Fall geraten die inneren, ,steuernden‘ Prozesse zueinander in Gegensatz, und es wird irgendeine Entscheidung fallen, wie sich das Bakterium letztendlich bewegt. Übrigens ist auch dann, wenn weder Nähr- noch Schadstoffe registriert werden (also während rein ,chaotischer‘ Bewegung) der Zeitpunkt, an dem Vorwärtsbewegung und Taumeln einander ablösen, eine Entscheidung, die im Inneren des Bakteriums fällt – es also ,seine‘ Entscheidung. Auch einem Menschen werden wir eine Verhaltensentscheidung als die ,seine‘ zuschreiben, wenn die Ursachen oder Gründe wesentlich in ihm selbst liegen

Eigenaktivität ist notwendig mit eigenen Entscheidungen verknüpft. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Entscheidungen in irgendeiner Weise ,frei‘ sind – sie sind durch ihre Ursachen bestimmt wie alle Entscheidungen, die ständig um uns herum fallen (z.B. die Entscheidung, ob es regnet oder nicht). Für die eigenen Entscheidungen von Lebewesen ist aber kennzeichnend, dass die Ursachen in ihnen selbst liegen, und dass Informationen über äußere Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen, durch die inneren Prozesse gewissermaßen ,gefiltert‘ werden: Es wird bewertet, ob ein äußerer Faktor dem Überleben und Wohlbefinden dient oder schadet – mit anderen Worten: Die Informationen werden verstanden.

Zum Begriff ,Entscheidung‘ muss allerdings gesagt werden, dass es Entscheidungen nur aus der Perspektive eines Betrachters gibt, der sich vorstellt, dass es auch anders sein könnte als es ist: Es regnet, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht regnen könnte. Der Regen hat aber natürlich seine Ursachen, die mit Notwendigkeit dazu geführt haben, dass es jetzt regnet. Es gibt, so gesehen, also gar keine Entscheidungen – es geschieht einfach, was geschieht, und ein Lebewesen verhält sich zu jedem Zeitpunkt so, wie es sich eben verhält. Das gilt auch für menschliches Handeln.

Trotzdem haben wir die starke Intuition, dass wir Entscheidungen treffen können und dies manchmal zu unserem Leidwesen auch tun müssen. Ich halte diese Intuition nicht für Einbildung. Ihr liegt etwas zugrunde, das für Lebewesen charakteristisch ist: dass nämlich in der Selbstregulation gegenläufige Prozesse auftreten können, die potentiell zu entgegengesetzten Reaktionen des Lebewesens führen. Solche gegenläufigen Prozesse können sich eine Zeitlang im Gleichgewicht, d.h. im Unentschieden befinden. Das mag dann subjektiv das Gefühl der Unentschlossenheit, des Hin-und-her-Gerissenseins auslösen. Ich werde in einem späteren Kapitel darauf ausführlicher eingehen.

 

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