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3.6. Symbolverhalten

Im letzten Abschnitt war es um den Erwerb des Wissens gegangen, der die Basis für das Verstehen von Information ist, Dieses Wissen ist freilich selbst Information: es sind die Formen und Strukturen der Lebewesen, auf denen ihr Verhalten, ihr Re-Agieren, ihr Entscheiden beruht. Die ,richtige‘ Reaktion auf Information von außen ist die ursprüngliche Weise des Verstehens.

Auch ein Verstehen im rein geistigen Sinne – also das, was wir gewöhnlich meinen, wenn wir von Verstehen sprechen – ist ein Reagieren und Entscheiden, wenn auch im Inneren. Dies geschieht meist mit Hilfe der Sprache, durch sprachliches Denken – also Denken in Wörtern und Sätzen, Sprechen ist eine motorische Aktivität, eine Aktion, und oft eine Re-Aktion. Sprachliches Denken (inneres Sprechen) kann man als innere Simulation des äußeren Sprechens auffassen – so, wie wir auch sonst in der inneren Vorstellung Handlungen simulieren können, sei es als Erinnerung an eine vergangene oder als Planung für eine zukünftige Handlung

.Die einfachste Form geistigen Verstehens ist wohl das Identifizieren, das Zuordnen von etwas Wahrgenommenem zu einer Kategorie. Wenn ich etwas sehe und denke: „Das ist ein Pferd“, dann habe ich das Wahrnehmungsbild (die Information) einer Kategorie (Pferde) zugeordnet und damit zugleich eine Entscheidung getroffen: „Das ist ein Pferd (und nichts anderes).“ Jede Identifikation, jedes einfache Bestimmen ist bereits eine Entweder-Oder-Entscheidung.

Betrachten wir noch ein anderes einfaches Beispiel für Verstehen: das Verstehen von Sprache. Meine Muttersprache verstehe ich, weil ich den Wörtern (akustischen Sequenzen) ,Bedeutungen‘ zuordnen kann. Doch was sind hier Bedeutungen? Die Basis geistigen Verstehens sind letztendlich phänomenale Erlebnisse. Das Wort ,Katze‘ verstehe ich, weil ich es mit visuellen, akustischen, haptischen Erinnerungen an jene Tiere verknüpfen kann. Auch hier ist Verstehen wieder zugleich entscheiden: Zuordnung von ,Katze‘ zu diesen und nicht zu anderen Erinnerungen und Vorstellungen – zum visuellen Schema einer Katze und nicht z.B. eines Hundes, zu Miauen und nicht zu Bellen, Wiehern, oder Blöken, usw.

Beim Verstehen abstrakter Wörter, die nicht leicht mit phänomenalen Vorstellungen assoziierbar sind, und beim Verstehen von Aussagen geht es darum, sagen zu können: „Es bedeutet dies (und nichts anderes, zumindest nicht das Gegenteil).“ Auch hier ist verstehen also Entscheiden. Solche Entscheidungen können auch von allgemeinerer Art sein, z.B.: „Diese Aussage ist falsch (und nicht richtig)“ oder: „Dieses Ding ist gut (und nicht schlecht)“ oder. „Diese Tat ist böse (und nicht gut, im moralischen Sinn)“. In vielen Fällen ist Verstehen zugleich Bewerten, und auch dies impliziert stets ein Entscheiden.

Das Bewerten ist nicht, wie man vielleicht meinen könnte, die höchste Stufe des Verstehens, sondern es ist im Gegenteil dessen Basis: Wie im Abschnitt 3.3 dargelegt, verstehen Lebewesen ihre Umgebung zunächst dadurch, dass sie sich darin ,richtig‘ verhalten – also so, dass sie überleben und sich fortpflanzen können. Auch sehr einfache Lebewesen ohne Nervensystem besitzen ein ererbtes Wissen darüber, was ihnen schadet und was ihnen nützt. Sie verfügen also zumindest über ein Kategorienpaar, das wir den mit Worten ,gut – schlecht‘ bezeichnen können: Dinge, die zu suchen sind (Nahrung, Schutz, Sexualpartner) und Dinge zu meiden (Feinde, Gefahr). Indem das Lebewesen eine Verhaltens-Entscheidung trifft, versteht und bewertet es seine Umgebung.

Auch für uns stellt das Kategorienpaar ,gut – schlecht‘ im Grunde eine Verhaltensalternative dar: Das Gute ist das Anstrebenswerte, das Schlechte ist das, was man vermeiden sollte. Auch die anderen Kategorien sind im Grunde Verhaltensoptionen: Das Schöne ist das Erstrebenswerte im Bereich der Ästhetik, das Böse ist das zu Meidende auf dem Gebiet der Moral. Auch der Gegensatz ,richtig – falsch‘ hat, wie bereits dargelegt, seine Wurzel im Verhalten: Richtig ist das, was einem Ziel oder Zweck gemäß ist. Das Ziel kann z.B. u.a. darin bestehen, einer Vorschrift oder Regel zu entsprechen – etwa dem Gesetz oder den Regeln der Orthografie oder der Mathematik.

Auch Sprechen ist Verhalten. Wir können es als ,symbolisches Verhalten‘ bezeichnen: Das Ziel der Bewegung des Körpers besteht hier hauptsächlich darin, Symbole zu erzeugen, also Informationen (Formen, Strukturen), die von den Artgenossen als Zeichen verstanden werden können. Wörter, gesprochen oder geschrieben, sind solche Zeichen. Aber auch Tiere und Pflanzen erzeugen Information, die von Artgenossen oder anderen Lebewesen als Zeichen verstanden wird – man denke an die ,Tänze‘ der Bienen oder an den Gesang der Vögel – überhaupt an jede Form von Balzverhalten oder Imponiergehabe, oder an die Farben der Blüten, die Zeichen für bestäubende Insekten sind.

Die Grundlage dafür, dass Lebewesen Zeichen erzeugen können, ist ihre generelle Fähigkeit, Umgebungs-Informationen als Zeichen zu verstehen und darauf mit Verhalten zu reagieren. Eine Information wird dadurch zum Zeichen, dass sie verstanden wird. Auch das Verhalten der Artgenossen wird dadurch zum Zeichen, dass es verstanden wird. So wird etwa für gesellig lebende Tiere die plötzliche Flucht eines einzelnen zum Zeichen für die anderen, sich ebenfalls zur Flucht zu wenden. Das Tier, das zuerst flieht, tut dies nicht, um ein Zeichen zu geben – es flieht einfach, weil es eine Gefahr bemerkt hat, Für die anderen aber wird dieses Verhalten zum Zeichen, ebenfalls zu fliehen.

Ausgangspunkt der Entwicklung von Kommunikation und von ,Sprachen‘ (auch im Tier- und Pflanzenreich) ist also nicht die Erzeugung von Zeichen für andere, sondern die Fähigkeit von Lebewesen, Information zu verstehen und sie dadurch für sich selbst in Zeichen zu verwandeln. Auch die Entwicklung der menschlichen Sprachen begann nicht damit, dass jemand Wörter erfunden hat, sondern damit, dass sie unsere Vorfahren die spontanen Lautäußerungen ihrer Artgenossen – Laute der Furcht, des Schmerzes, der Überraschung, des Wohlbehagens, der Freude – richtig verstanden haben.

Im Rahmen des Gattungslernens kann regelmäßige Erzeugen von Information, die von anderen Lebewesen mir hoher Wahrscheinlichkeit als Zeichen verstanden wird nur erlernt werden, wenn dieses Verhalten auch für das aussendende Individuum von Vorteil ist. Dies dürfte besonders für die Fortpflanzung der Fall gewesen sein: Das aussendende Tier lockt potentielle Sexualpartner an und hat dadurch selbst bessere Fortpflanzungschancen.

Auch hier muss aber das Verstehen dieser Information als Zeichen der regelmäßigen Produktion vorausgegangen sein. Beispielweise müssen bestimmte, für eine Gattung charakteristische Bestandteile der Ausscheidung als Zeichen für die Nähe von Artgenossen verstanden, also mit einem Annäherungsverhalten verknüpft worden sein, bevor die verstärkte Produktion dieser Substanz einen Vorteil brachte und diese zum Sexual-Lockstoff wurde.

Allgemein können wir sagen: Verstehen von Information geschieht ursprünglich dadurch, dass die Information zum Zeichen, zum Signal für Verhalten wird. Je mehr Informationen aus seiner Umgebung ein Lebewesen in Zeichen für sein Verhalten verwandeln kann, um so angepasster wird sein Verhalten sein und um so größer werden statistisch seine Chancen sein, zu überleben, zu gedeihen und sich fortzupflanzen.

Eine besonders wertvolle Art von Informationen sind jene über die Anwesenheit anderer Lebewesen (äußere Gestalt, Geruch) und das Verhalten anderer Lebewesen – nicht nur der eigenen Art. Diese Informationen als Zeichen für das eigene Verhalten zu verstehen bringt erhebliche Vorteile mit sich – deshalb wird dies erlernt, zunächst durch das Gattungslernen, also die Evolution des Verhaltens durch Mutation und Selektion.

Auf der Basis dieses Als-Zeichen-Verstehens von Information können Lebewesen dann lernen, regelmäßig Information als Zeichen für andere Lebewesen zu produzieren. Das kann durch das Verhalten geschehen, aber auch schon durch die äußere Form, wie bei den Farben der Blüten. Lebewesen können sogar lernen, Information zu produzieren, die andere Lebewesen, z.B. Fressfeinde, in die Irre leiten (siehe Abschnitt 2.5).

Dies ist die Basis dafür, dass Lebewesen, die über phänomenales Erleben verfügen, schließlich lernen können, Information bewusst in der Erwartung zu produzieren, dass sie von anderen als Zeichen verstanden wird. Ich nenne solche Informationen ,Symbole‘ und das entsprechende Verhalten ,Symbolverhalten‘. Ich verwende die Ausdrücke ,Zeichen‘ und ,Symbol‘ also nicht synonym, sondern mit klar verschiedener Bedeutung: Zum Zeichen wird Information durch den Akt des Verstehens. Zum Symbol wird Information dadurch, dass sie in der Erwartung ausgesandt wird, in bestimmter Weise verstanden zu werden.

Der Ausdruck ,Zeichen‘ sagt also etwas über die Beziehung zwischen Information und Empfänger, der Ausdruck ,Symbol‘ etwas über die Beziehung zwischen Information und Absender. Jede Information kann zum Zeichen werden, auch wenn sie nicht als Symbol abgesandt wurde. Andererseits kann es vorkommen, dass ein Symbol nicht verstanden oder missverstanden wird, Dann wird es entweder gar nicht zum Zeichen oder zum Zeichen für etwas anderes als vom Absender intendiert war.

Die Fähigkeit, durch Verhalten gezielt Symbole zu erzeugen, ist die Basis des menschlichen Sprechens, Schreibens, Rechnens und auch des Denkens, so weit es auf der Sprache beruht. Aber nicht nur Menschen sind zur gezielten Symbolproduktion fähig. Wir teilen diese Fähigkeit zumindest mit unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Wild lebende Schimpansen benutzen eine Anzahl von Gesten mit relativ feststehenden Bedeutungen, um sich zu verständigen. Catherine Hobaiter und Richard Byrne konnten 66 verschiedene Gesten und 19 Bedeutungen identifizieren. Diese ,sprechenden Gesten‘ repräsentieren eine frühe Stufe der Sprachentwicklung [1].

Schimpansen können sogar Symbole der menschlichen Zeichensprache für Taubstumme erlernen. Die Schimpansin Washoo lernte ca. 250 Wörter der amerikanischen Zeichensprache, deren Bedeutung sie offenbar verstand, und die sie sinnvoll einsetzte [2]. Dieses Verhalten wurde ihr von Menschen antrainiert, es ist also eine Übernahme aus der menschlichen Kultur. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zum Trainieren eines künstlichen neuronalen Netzwerks, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass Washoo phänomenales Erleben und eigene Bedürfnisse hatte und deshalb die Symbole nach ihren eigenen Bedürfnissen einsetzen konnte.

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3.6.1. Exkurs: Können Maschinen irren?

Wie bereits erwähnt, ist die Fähigkeit zum Irrtum ein wichtiges Kriterium, durch das wir das Verhalten von Lebewesen von dem von Maschinen abgrenzen können: Von einer Maschine werden wir nicht im Ernst sagen, sie habe sich geirrt. Wenn sie nicht das tut, was sie soll (was ihr Zweck ist), dann ist sie falsch programmiert oder defekt. Aber – so mag jemand einwenden – können wir das nicht auch von einem Lebewesen sagen? Ist das, was wir bei uns selbst oder bei einem Tier Irrtum nennen, nicht vielleicht in Wahrheit auch die Folge eines (vielleicht nur momentanen) Defekts im Gehirn oder einer falsche ,Programmierung‘ durch Eltern. Lehrer, oder eben durch die Evolution im Fall des Gattungslernens?

Tatsächlich können Menschen durch falsche ,Programmierung‘, etwa durch falsche Erziehung oder Indoktrination dazu gebracht werden ,dass sie sich systematisch ,falsch‘ verhalten – also nicht so, wie es ihrem Gedeihen in ihrer sozialen, kulturellen, politischen Umgebung förderlich wäre. Wenn aber ganz klar ist, dass ein Mensch tatsächlich Opfer falscher Programmierung ist, und er selbst keine Möglichkeit hatte, dies zu durchschauen, etwa wegen seiner Jugend oder weil er keine Möglichkeit hatte, sich anderweitig zu informieren, dann werden wir den Menschen für sein falsches Verhalten nicht verantwortlich machen können. Wir können gerechterweise dann nicht sagen, dass er selbst sich geirrt hat, sondern wir müssen sagen, dass er durch andere in die Irre geführt wurde.

Was das Defektsein betrifft, so werden wir bei einem Menschen, der sich scheinbar andauernd ,irrt‘, sich andauernd seltsam verhält, tatsächlich vermuten, dass in seinem Gehirn etwas nicht in Ordnung ist. Wenn das der Fall ist – wenn etwa Schizophrenie oder Alzheimer festgestellt wurde, dann betrachten wir sein Verhalten nicht mehr als menschlich normalen Irrtum oder Fehler, sondern als anormales Verhalten infolge eines Defekts. Sich irren zu können setzt also offenbar die grundsätzliche Intaktheit der Verhaltenssteuerung voraus.

Was ist nun aber mit der falschen Programmierung? Warum können wir sicher sein, dass zumindest in einigen Fällen ein Mensch sich selbst irrt und für seinen Irrtum oder sein falsches Verhalten verantwortlich ist? Und warum können wir auch bei einem Tier, das sich offensichtlich falsch verhält – so, dass es dadurch umkommt oder sich eine Verletzung zuzieht – sagen, dass es sich selbst irrt und nicht bloß das Opfer eines ungeeigneten ererbten Verhaltensprogramms ist?

Der Grund liegt in der Fähigkeit lebender Wesen, autonom zu lernen, teils individuell, aber zumindest als Gattung. Das individuelle Lernen beruht auf der Fähigkeit, durch Fehler zu leiden (z.B. Schmerz oder Furcht zu empfinden), das Gattungslernen beruht auf der ,Möglichkeit, durch Fehler zu umzukommen oder sich zumindest nicht mehr fortpflanzen zu können. Durch diese beiden Arten des Lernens wird das (als Struktur repräsentierte) Wissen erworben, das dann die Grundlage des Verstehens und, falls es fehlt, des Missverstehens und Irrens ist.

Ein nicht optimales Verhaltensprogramm in einem Lebewesen ist also nicht Folge falscher Programmierung (durch wen?), sondern Ausdruck mangelnden Wissens. Genauer gesagt, es mangelt an Wissen, das durch vergangenes Leben erworben wurde – sei es das bisherige Leben und Lernen des bewussten Individuums, oder sei es das vergangene Leben, die bisherige Entwicklung der Gattung.

Wenn wir nun aber jene Lebewesen nehmen, die kein phänomenales Erleben haben und nicht individuell lernen können – also Pflanzen und niedere Tiere – müssen wir dann nicht doch sagen: Wenn sie sich falsch verhalten, dann beruht das ausschließlich an einem Mangel an ererbtem Wissen, da sie selbst als Individuen kein Wissen erwerben können? Wenn also Irrtum die Folge mangelnden Wissens ist – müssen wir dann nicht sagen: Wenn ein Exemplar einer solchen Gattung sich falsch verhält, dann ist das ein Fahler der Gattung, nicht des Individuums?

Man kann das deshalb nicht sagen, weil es sein könnte, dass andere Individuen derselben Gattung sich in der gleichen Situation richtig verhalten. Das Wissen einer Gattung wird nicht auf alle Individuen gleichmäßig und vollständig vererbt; es gibt genetische Varianten, und es treten Mutationen auf. Insofern ist jedes Lebewesen gewissermaßen Opfer seiner Vergangenheit – der individuellen, der seiner Gattung, und der Vergangenheit überhaupt.

Das gilt ebenso gut für den Menschen: Oft kann man die Fehler eines Menschen mit seiner Vergangenheit, seiner Lebensgeschichte erklären. Trotzdem rechnen wir ihm seine Irrtümer und Fehler gewöhnlich zu – außer in den oben erwähnten Fällen von Schuldunfähigkeit. Die Vergangenheit einer Maschine aber ist ein menschlicher Plan, einen menschlichen Zweck zu verwirklichen. Maschinen sind in ihrem grundsätzlich fremdbestimmt und daher schuldunfähig. Ihre Fehler sind nicht ihre Fehler, sonder unsere.

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Fußnoten

  1. Hobaiter, C. & Byrne, R. W. (2014): The meaning of chimpanzee gestures. Current Biology 24 (14), 1596–1600. Siehe auch die deutsche Zusammenfassung auf der Website des Humanistischen Pressedienstes.  [⇑]
     
  2. Fouts, R. u. Mills, S. T.: Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein. München, Limes Verlag 1998, oder als Taschenbuch bei Droemer Knaur 2002.  [⇑]