Im vorigen Abschnitt hatten wir Wissen als Information, d.h. als Form oder Struktur bestimmt, die einem Ding oder System die Fähigkeit verleiht, sich ,richtig‘, d.h. einem Ziel oder Zweck gemäß zu verhalten. Da auch Moleküle wie die DNS oder Maschinen, ja selbst einfache Werkzeuge in diesem Sinne Wissen besitzen, ist Wissen weder an ein Gehirn noch überhaupt an ein biologisches Substrat gebunden. Aber Wissen scheint an etwas anderes gebunden zu sein: an Ziele oder Zwecke, die durch das jeweilige Wissen erreicht werden,
Auch ein Schneekristall verhält sich aufgrund seiner strukturellen Eigenschaften – also aufgrund der in ihm enthaltenen Information – in einer bestimmten Weise – nämlich so, dass weitere Wassermoleküle andocken und die regelmäßige Kristallstruktur ‘wachsen’ lassen. Aber dieses Verhalten des Kristalls erfüllt keinen Zweck, denn der Schneekristall als solcher hat in der Natur weder Zweck noch Ziel (wiederum unter der Voraussetzung, dass die Natur nicht die Schöpfung eines intelligenten Designers ist).
Schneekristalle, Wolken, Steine, Planeten oder Sterne sind Dinge, die durch natürliche Ursachen entstanden und nun einfach da sind, denen wir aber keine Ziele oder Zwecke zuschreiben. Maschinen und Werkzeuge dagegen haben Zwecke, und Lebewesen, so scheint es, haben zumindest das Ziel, am Leben zu bleiben und sich fortzupflanzen – jedenfalls verhalten sie sich regelmäßig so. Höher entwickelte Tiere haben anscheinend – ihrem Verhalten nach zu urteilen – weitere, speziellere Ziele, zum Beispiel das Ziel, Schmerz zu vermeiden.
Die in Maschinen, Werkzeugen und anderen Artefakten enthaltene Information wurde im Abschnitt 1.3 ausführlich behandelt. Ihre Formen und Strukturen resultieren aus den Zwecken, denen sie dienen sollen, und diese Zwecke resultieren aus den Zielen der Menschen – aus dem allgemeinen Zielen, am Leben zu bleiben, sich fortzupflanzen und Leid zu vermeiden, und den vielen, sich daraus ergebenden speziellen Zielen. In ähnlicher Weise können wir die zweckdienlichen Formen und Strukturen unseres Körpers und seiner Teile verstehen: Auch sie dienen den allgemeinen Zielen des Überlebens, der Fortpflanzung und der Leidvermeidung.
Auch für Lebewesen ganz allgemein können wir sagen: Die zweckhaften Formen und Strukturen dienen ihrem Überleben, ihrer Fortpflanzung, und,auch die Fortpflanzung dient letztlich nur dem Ziel des Überlebens als Spezies. Die entscheidende Frage im Hinblick auf den seltsam ‘teleologischen’ Charakter der Lebewesen ist also: Wieso – oder woher – haben Lebewesen das Ziel, zu überleben? Oder ist es falsch, hier von einem Ziel zu sprechen?
Fragen wir zunächst, was Leben überhaupt ist [1]: Es ist ein – physikalisch gesehen ziemlich unwahrscheinlicher – Zustand, der durch die Homöostase gekennzeichnet ist, ein sich selbst regelndes, instabiles Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist ziemlich fragil, und es zu verlieren bedeutet das meist irreversible Zurückfallen in den physikalisch ‘normaleren’ Zustand lebloser Materie. Aus-dem-Gleichgewicht-Kommen, Verlust der Homöostase bedeutet Tod. Ein Lebewesen ist nur solange ein Lebewesen, wie es ihm gelingt, dem Tod zu entgehen.
Die ‘Zielgerichtetheit’ der Lebewesen ist also nur die Antwort auf eine andere, umgekehrte Zielgerichtetheit: der Tatsache, dass das ‘Ziel’ allen Lebens der Tod ist – das letztendliche Zurückfallen in den physikalisch wahrscheinlicheren Zustand der Leblosigkeit. Der Kampf ums Überleben ist der Kampf gegen dasjenige, dem zugleich jedes Lebewesen unweigerlich zustrebt. Diese Komponente der Zielgerichtetheit von Lebewesen – die Tendenz zum Zerfall, zur Auflösung der Komplexität, also in Richtung der Zunahme der Entropie – hat nichts Überraschendes; sie fügt sich problemlos in unser Bild der physikalischen Welt ein [2].
Stellen wir also fest: Mit dem Leben tritt auch das Sterben in die Welt Es ist die stets gegebene Möglichkeit des Todes, welche die Grundlage dafür bildet, dass Lebewesen ihr Ziel in sich selbst haben: das Ziel, am Leben zu bleiben, den unwahrscheinlichen Zustand ,Leben‘ – die Homöostase – aufrecht zu erhalten und die eigene Struktur (Information) zu reproduzieren, auszubreiten, zu vervielfältigen. Die scheinbare Zielgerichtetheit des Lebens ist also in Wahrheit paradox: Mit der Entstehung des Lebens wird die ursprüngliche Ziellosigkeit der Naturvorgänge gewissermaßen aufgespalten in die Polarität zweier entgegengesetzter Ziele – Überleben und Sterben – die einander bedingen wie die entgegengesetzten Ladungen von Proton und Elektron im Atom.
Maschinen – mögen sie noch so komplex und ‘intelligent’ sein – haben ihren Ziel niemals in sich selbst, sondern dienen stets menschlichen Zwecken [3]. Ihre Aktivität entspringt nicht aus ihnen selbst, sondern ist menschliche Aktivität – sie sind sozusagen der verlängerte Arm und mittlerweile auch das erweiterte Gehirn des Menschen. Sterne weisen zwar eine Aktivität aus sich selbst heraus auf, aber diese Aktivität hat nicht das Überleben des Sterns zum Ziel, sie dient nicht der Erhaltung und Vervielfältigung der Struktur. Sterne halten keine Homöostase aufrecht, sondern sie verbrennen sich gewissermaßen selbst, so lange, bis ihre Energie aufgebraucht ist. Sterne kämpfen nicht ums Überleben, sondern streben in einem fort dem Ende zu, das ihnen aufgrund ihrer Masse vorherbestimmt ist – dem Ende als schwarzer oder weißer Zwerg, als Neutronenstern oder als schwarzes Loch.
Fassen wir zusammen: Wir haben nun sowohl den Unterschied zwischen Lebewesen und leblosen Naturdingen als auch den zwischen Lebewesen und Artefakten bestimmt. Lebewesen haben ein Ziel und einen Zweck in sich selbst: zu überleben und das Leben – den Zustand und die zugrunde liegende Struktur/Information – weiterzugeben. Leblose Naturdinge haben keine Ziele oder Zwecke, und Produkte menschlicher Tätigkeit haben keine eigenen Ziele, sondern dienen menschlichen Zwecken.
Lebewesen, so hatten wir festgestellt, sind gekennzeichnet durch ein inneres dynamisches Gleichgewicht, die Homöostase, die auf Selbstregulation beruht. Betrachten wir nun die Struktur, die die Homöostase ermöglicht, dann finden wir, dass Lebewesen eine strukturelle Besonderheit aufweisen: Einerseits haben sie eine mehr oder weniger feste Außenhülle und sind klar umgrenzt wie ein fester Körper, Andererseits sind sie in ihrem Inneren flüssig – im Zellinneren, aber auch z.B. im Inneren des Verdauungstrakts und der Blutgefäße der Tiere oder.der Wasserleitungsbahnen der Pflanzen. Das ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Lebewesen vereinen in ihrer Struktur die Vorteile zweier Aggregatzustände: Sie sind fest und flüssig in einem.
Das flüssige Innere vor allem der Zellen ermöglicht die chemischen Reaktionen, die für das Leben konstitutiv sind. Die feste Hülle aber grenzt das Innere des Lebewesens von der Umgebung ab und macht es dadurch überhaupt erst den Austausch von Stoffen und Energie zwischen beiden möglich. Dieser ständige Austausch bewirkt aber auch, dass Änderungen in der Umgebung, z.B. der Temperatur oder der Konzentration von Stoffen auch zu Änderungen im Inneren des Lebewesens führen. Dabei muss das Lebewesen seine Homöostase, sein inneres Gleichgewicht aufrecht erhalten: Seine Selbstregulation muss dafür sorgen, dass die Schwankungen im Inneren gewisse Grenzwerte nicht überschreiten. Eine starke Veränderung in der Umgebung kann daher auch zu einer Gegenreaktion im Inneren des Lebewesens führen.
Wir können daher sagen: Das Innere eines Lebewesens reagiert ,sensibel‘ auf die Umgebung. Wir können auch sagen: Das Innere eines Lebewesens spiegelt die Umgebung in gewisser Weise wider – allerdings anders als ein gewöhnlicher Spiegel: Der gewöhnliche Spiegel verändert sich selbst nicht durch das, was er spiegelt – das Innere eines Lebewesens dagegen spiegelt Veränderungen in der Umgebung wider, indem es sich selbst verändert.
Das wäre freilich trivial, wenn die Änderung im Inneren der Änderung im Äußeren nur folgen würde – auch ein Stein erwärmt sich allmählich in seinem Inneren, wenn er von der Sonne beschienen wird. Das allein ist es aber gerade nicht; Wenn in einem Lebewesen die Temperatur im Inneren zu stark ansteigt, dann muss es entweder gegensteuern und aktiv Wärme abführen, um die Homöostase aufrecht zu erhalten (andernfalls würde es sterben). Die Änderungen im Inneren eines Lebewesens sind also niemals nur die Folge der äußeren Veränderungen, sondern werden letztlich bestimmt durch die Selbstregulation zur Aufrechterhaltung der Lebensvorgänge.
Zwar sind auch manche künstlichen Systeme, z.B. eine Zentralheizung, zu einer gewissen Selbstregulation fähig. Aber hier ist es der Mensch, der die Soll- und Grenzwerte nach seinen Bedürfnissen einstellt. Deshalb handelt es sich um keine echte Selbstregulation. Wir werden diesen Unterschied zwischen Lebewesen und technischen Systemen später noch genauer betrachten. Halten wir fest, dass Lebewesen in ihrem inneren Zustand ihre Umgebung widerspiegeln, dass sie dies jedoch auf eine aktive und eigenwillige Art tun.