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1.2. Intentionalität und Bewusstsein

In diesem Abschnitt geht es um die Frage, ob Intentionalität vom Bewusstsein abhängig ist, das heißt um die Frage, ob nur bewusste Zustände intentional sein können, und ich werde diese Frage mit Nein beantworten.

Franz Brentano nannte die Intentionalität ein Merkmal der psychischen Phänomene, das physischen Phänomenen nicht eigen sei. Er machte dabei keinen Unterschied zwischen Bewusstem und Unbewusstem. In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion wird meist zwischen Physischem und Mentalem unterschieden, und ein Wesensmerkmal des letzteren ist das Bewusstsein. Es ist gerade das Bewusstsein, das die Einordnung des Mentalen in die physikalische Welt so schwierig macht.

Unbewusste psychische Zustände (falls dieser Begriff überhaupt sinnvoll ist) können dagegen einfach als Zustände des Gehirns, also als physisch angesehen werden. Dem entsprechend könnte man unbewusste intentionale Zustände (falls es sie gibt) als intentionale Gehirnzustände ansehen. Das aber würde bedeuten, dass – anders als Brentano angenommen hat – Intentionalität auch gewissen physischen Phänomenen eigen sein kann. Im Folgenden argumentiere ich dafür, dass es solche unbewussten intentionalen Zustände – also unbewusste Zustände (vermutlich des Gehirns), die einen intentionalen Gehalt haben – tatsächlich gibt.

Nehmen wir zum Beispiel an, Hans liebt Marie. Wenn das der Fall ist, dann werden wir vermuten, dass er sie nicht nur dann liebt, wenn er dieses Gefühl gerade spürt, und nicht nur dann, wenn er Marie sieht oder hört oder an sie denkt, sondern auch dann, wenn Marie nicht anwesend ist und Hans mit etwas anderem beschäftigt ist – wenn also das Gefühl der Liebe nicht in seinem Bewusstsein präsent ist. Wir werden vermuten, dass das Gefühl in ihm ,aufbewahrt‘ ist – früher hätte man gesagt: in seinem Herzen. Wir vermuten heute eher, dass es im Gehirn gespeichert ist als Erinnerungsspur, als Engramm, als Veränderung in einigen Synapsen, oder wie auch immer – jedenfalls in einer subtilen Änderung in der Struktur des Gehirns [1]. Da diese Strukturveränderung aber irgendwie mit Marie und mit Hans’ Gefühl für sie zu tun hat, müssen wir sagen: Diese neuronale Struktur hat einen intentionalen Gehalt.

Es lassen sich viele ähnliche Beispiele anführen: Nehmen wir an, Peter glaubt an die Existenz von UFOs. Auch dann werden wir annehmen, dass das nicht nur dann zutrifft, wenn er ein UFO zu sehen meint oder an UFOs denkt, sondern dass es permanent zutrifft – solange, wie Peter an diesem Glauben festhält. Auch in diesem Fall werden wir vermuten, dass Peters Glaube auch dann, wenn er nicht in seinem Bewusstsein präsent ist, doch in seinem Gehirn gespeichert ist – ein intentionaler Gehalt in einer physischen Struktur.

An dieser Stelle muss der Ausdruck ,intentionaler Gehalt‘ näher bestimmt werden: Wenn wir einen mentalen Zustand untersuchen können wir unterscheiden zwischen der Art dieses Zustandes (Wahrnehmen, Denken, Wünschen, Lieben, Hassen usw.) einerseits und dem intentionalen Objekt (dasjenige, was wahrgenommen, gedacht, geliebt, gewünscht wird) andererseits [2]. Wenn man nun fragt: Was ist dasjenige, das im Gehirn von Hans und Peter gespeichert ist, wenn die Liebe zu Marie bzw. der UFO-Glaube gerade nicht im Bewusstsein präsent ist? Es ist nicht nur die Erinnerung an Marie bzw. an UFOs, sondern auch an jene emotionalen und gedanklichen Assoziationen, die die Liebe zu jemandem bzw. den Glauben an etwas ausmachen. Und das zusammen bezeichne ich als den intentionalen Gehalt. Der intentionale Gehalt umfasst also nicht nur das Objekt, sondern auch die Art des mentalen Zustands.

Betrachten wir ein anderes Beispiel: die ,Erinnerungsspur‘ (nennen wir es einfach so) in meinem Gehirn, die durch eine visuelle Wahrnehmung verursacht ist, beispielsweise durch die Wahrnehmung des Gesichts einer Person. Diese neuronale Struktur bezieht sich auf das Gesicht und ist somit intentional. Das Gesicht ist in der neuronalen Struktur gespeichert, und diese Tatsache ermöglicht es mir, mich an es zu erinnern, es mir innerlich vorzustellen und es wiederzuerkennen. Auch dies spricht (1) für die Annahme, dass Intentionalität unabhängig vom Bewusstsein ist, und (2) unter der Voraussetzung, dass Erinnerungen durch Änderung in der neuronalen Struktur gespeichert werden für die Annahme, dass auch Physisches intentional sein kann.

Zumindest die zweite Annahme ist gewiss nicht im Sinne Brentanos, dem es darum ging, das Psychische vom Physischen zu unterscheiden und nicht darum, das Verbindende zwischen beidem zu finden. Was die Voraussetzung von (2) betrifft, so ist zu beachten: Erinnerungen als mentale Phänomene sind nur aus der Innenperspektive zugänglich; das heißt, andere Personen können meine Erinnerungen nicht direkt beobachten – ich kann sie ihnen nur auf verschiedene Weise mitteilen. Daher lässt sich die These, dass Erinnerungen durch strukturelle Veränderungen (besonders der Synapsen) im Gehirn gespeichert werden, nicht im strengen Sinne beweisen. Doch es gibt zahlreiche empirische Befunde, die diese These stützen. Takeuchi, Duszkiewicz und Morris (2014) geben eine Übersicht über den Stand der Forschung und schreiben in ihrer Zusammenfassung:

„Nachweise, die mit Hilfe der optischen Bildgebung, der Molekulargenetik und ontogenetischer Techniken in Verbindung mit passenden Verhaltensanalysen stützen zunehmend die Idee, dass die Veränderung der Stärke der Verknüpfung zwischen den Neuronen einer der Hauptmechanismen ist, durch die Engramme im Gehirn gespeichert werden.“ [3]
 

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1.2.1. Exkurs: Geistige Zustände und Gehirnzustände

Wenn ich sage, dass geistigen Zuständen vermutlich Gehirnzustände zugrunde liegen, dann ist das eine metaphysische Annahme derselben Art als wenn ich sage, dass meinen Wahrnehmungen (also geistigen Zuständen) vermutlich physische Phänomene der Außenwelt zugrunde liegen.

Mir scheint, es besteht eine ,symmetrische Unzugänglichkeit‘: Weder kann ich aus meinem Bewusstsein ,herausgucken‘ (alles, was ich wahrnehme, nehme ich in meinem Bewusstsein wahr), noch kann jemand von außen in mein Bewusstsein hineingucken. Ich kann streng genommen nicht wissen, ob es ,da draußen‘ irgend etwas gibt, und keiner von da draußen (falls es da jemanden gibt) kann streng genommen wissen, ob es in meinem Schädel einen Geist und ein Bewusstsein gibt.

Gehirnzustände sind, auch wenn das seltsam klingt, für das Bewusstsein ein Teil der äußeren, physischen Welt. Wir können Gehirnzustände – im Prinzip auch unsere je eigenen – mit Hilfe von technischen Geräten (Computertomograph) visuell beobachten, genauso wie wir Zustände z.B. im Inneren von Zellkernen oder in weit entfernten Regionen des Weltraums mit Hilfe technischer Geräte visuell beobachten können. Beides, die ,Welt da draußen‘ und die Vorgänge im Gehirn, beobachten wir aus derselben Perspektive. So wenig ich behaupten kann, die ,Welt draußen‘ sei identisch mit meinen Wahrnehmungen, so wenig kann ich behaupten, meine Gehirnzustände seien identisch mit meinen geistigen Zuständen. Ich kann beides nicht behaupten, weil ich es prinzipiell nicht wissen kann.

Andererseits erscheint es mir vernünftig, anzunehmen, dass die ,Welt da draußen‘ tatsächlich existiert und dass sie die Grundlage für meine Wahrnehmungen ist. Ebenso vernünftig erscheint mir die Annahme, dass meine Gehirnzustände die Grundlage meiner geistigen Zustände sind. Beides sind metaphysische Annahmen. Sie sind nicht prüfbar, denn so wenig sich die Existenz der ,Welt da draußen‘ beweisen lässt, so wenig lässt sich beweisen, dass jemand oder etwas geistige Zustände hat oder nicht hat.

Letzteres – die Nichtprüfbarkeit der Existenz oder Nichtexistenz geistiger Zustände – gilt auch dann, wenn man die Existenz der ,Welt draußen‘ als gegeben voraussetzt. Naturwissenschaftler tun dies gewöhnlich in einem ,naiven‘ Realismus, und die meisten Hirnforscher gehen genauso ,naiv‘ davon aus, dass Gehirnvorgänge die Basis der geistigen Vorgänge sind. Beides sind, wie gesagt, metaphysische Annahmen, und beide erscheinen mir vernünftig, weil sie sich für das Erkenntnisstreben als fruchtbar erwiesen haben.

 

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Fußnoten

  1. Soweit wir heute wissen, werden Gedächtnisinhalte in den Synapsen, gespeichert, genauer gesagt in der synaptischen Effizienz neuronaler Netze. Entscheidend ist hierbei die synaptische Plastizität: Viele Synapsen sind anatomisch anpassungsfähig. Dadurch können sie die Effizienz der Übertragung zwischen den Neuronen verändern.  [⇑]
     
  2. Edmund Husserl, ein Schüler Brentanos, hat unterschieden zwischen Noesis (Weise des Intendierens, intentionaler Akt) und Noema (das Intendierte, intentionales Objekt). Siehe Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. I (Husserliana III/1), § 85, S. 194; § 87f., S. 200ff.  [⇑]
     
  3. Takeuchi, Duszkiewicz, and Morris (2014). The synaptic plasticity and memory hypothesis: encoding, storage and persistence. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences, 369 (1633).  [⇑]
     

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