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1.3. Produkte des menschlichen Geistes

Im vorigen Abschnitt war ich zu dem Ergebnis gelangt, dass (1) Intentionalität nicht vom Bewusstsein abhängig ist und dass (2) auch physische Strukturen im Gehirn einen intentionalen Gehalt. haben können. In diesem Abschnitt werde ich noch weiter gehen und behaupten, dass es auch außerhalb des Gehirns physische Strukturen gibt, die einen intentionalen Gehalt haben, die also etwas virtuell beinhalten, von etwas handeln, auf etwas verweisen oder auf etwas bezogen sind, das von ihnen selbst verschieden ist.

Üblicherweise werden geistige Zustände und Vorgänge im Gehirn verortet. Viele Naturalisten gehen davon aus, dass mentale Zustände eng verbunden oder gar identisch mit Gehirnzuständen sind. Eine Ausnahme sind die Funktionalisten: Sie behaupten, dass es nicht darauf ankommt, wo mentale Zustände lokalisiert sind oder in welcher physischen Struktur (Gehirn, Computer) sie auftreten, sondern nur, welche Funktion sie haben. Brentano hat sicherlich nicht angenommen, dass geistige, also psychische Vorgänge außerhalb des Kopfes stattfinden – oder außerhalb des Körpers, wenn man das menschliche Herz mit einbezieht. Aber schauen wir, was aus seiner Definition des Mentalen als Intentionalem folgt.

Was ist mit Dingen wie Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“? Zweifellos hat das Gedicht einen Inhalt, es erzählt eine Geschichte. Gleichzeitig existiert es als physisches Objekt, bestehend aus Buchstaben, die auf Papier geschrieben oder gedruckt sind, Oder das Gedicht wird von jemandem vorgetragen, dann existiert es in Form von Schallwellen, d.h. von Schwingungen der Luftmoleküle. Das Gedicht benötigt eine physische, materielle Form, um zu existieren, zumindest außerhalb des Gehirns und außerhalb des Geistes (die Existenz des Gedichts im Gehirn ist Thema des nächsten Abschnitts).

Was das gedruckte Gedicht in einem Buch betrifft, mag man einwenden: Es hat keinen intentionalen Gehalt, solange es niemand liest, denn der Gehalt entsteht erst im Bewusstsein der Person, die das Gedicht liest und versteht. Da ist etwas Wahres daran, denn weder die Lautbedeutungen der Buchstaben noch die Wortbedeutungen und das nötige Kontextwissen sind in dem Text enthalten. Dieses Wissen muss der Leser mtibringen. Kann der Text ohne dieses Wissen des verstehenden Lesers überhaupt etwas bedeuten? Kann es einen semantischen Gehalt haben? Anscheinend nicht. Andererseits: Die Reihenfolge der Buchstaben und Zeichen auf dem Papier wurde bestimmt durch die Wörter und Sätze und letztlich den Inhalt des Gedichts, und allein auf der Basis dieser Reihenfolge kann der verstehende Leser den Inhalt in seinem eigenen Geist erzeugen. Es ist also irgendwie doch so, dass die Buchstaben auf dem Papier das Gedicht auf eine seltsame, nicht-semantische Weise beinhalten.

Betrachten wir ein anderes Beispiel: Wenn ich in Wörtern und Sätzen denke, dann handeln meine Gedanken von irgendetwas. Wenn ich dieselben Wörter oder Sätze laut denke, dann handelt meine Rede von genau demselben, sie hat denselben Inhalt. Meine Rede ist eine Sequenz von Schallwellen, dadurch können andere sie wahrnehmen und verstehen. Es sind allein die Schallwellen, die den Inhalt transportieren – also muss dieser Inhalt auch irgendwie in ihnen (in ihrer Struktur oder Konfiguration) enthalten sein. Andererseits ist es genau wie beim geschriebenen oder gedruckten Text: Der Hörer muss meine Sprache verstehen und vielleicht auch ein bestimmtes Kontext-Wissen besitzen, um den semantischen Inhalt meiner Rede in seinem Geist zu rekonstruieren.

Man mag ferner einwenden, der Inhalt eines Gedankens (oder eines anderen mentalen Zustandes) sei intrinsisch, der Inhalt eines gesprochenen oder geschriebenen Satzes jedoch nicht. Aber ist es nicht vielmehr der Gedanke selbst, also das Denken als geistige Aktivität, das seinem Wesen nach intrinsisch ist – zugänglich nur für den Denkenden selbst? Wenn ich denke, Schmerz empfinde, etwas höre, sehe oder rieche, dann sind diese mentalen Zustände intrinsisch, ganz unabhängig von ihrem Inhalt. Sie sind nicht durch jemand anderes beobachtbar, solange ich sie nicht physisch zum Ausdruck bringe durch Sprache, Mimik oder Gestik. Es ist also nicht der intentionale Gehalt, der seiner Natur nach intrinsisch ist, sondern der mentale Zustand, der ihn beinhaltet.

Ein dritter möglicher Einwand könnte sein, dass der intentionale Gehalt von Sprache darauf beruht, dass wir bewusste Wesen sind – somit wären die intentionalen Eigenschaften der Sprache abgleitet und sekundär, während die Intentionalität mentaler Zustände ursprünglich und primär ist. Darauf antworte ich: Ohne Geist und Bewusstsein könnte ich diese Gedanken nicht denken und diese Sätze nicht schreiben, das ist wahr. Aber es ist nicht entscheidend für unsere Untersuchung. Entscheidend für uns ist dagegen die Tatsache, dass physische Strukturen wie Schallwellen oder Text auf Papier einen Gehalt haben können und dass sie Gedanken, Vorstellungen und anderen mentalen Zuständen in dieser Hinsicht ähneln – wenn auch mit dem wichtigen Unterschied, dass in einem Text oder in einer Rede der Gehalt nur formal, als Struktur oder Konfiguration, als spezifische Anordnung der Teile eines Ganzen gegeben ist. Doch diese spezifische Anordnung trägt den Inhalt.

Da sie offenbar von etwas handeln, also einen geistigen Inhalt haben, scheinen Objekte wie ein Gedicht in einem Buch irgendwie beides zu sein: physisch und, in gewissem Sinne, geistig. Karl Popper, der das ebenfalls sah, hat eine Drei-Welten-Ontologie [1] vorgeschlagen: Zusätzlich zu einer Welt 1 der physischen Objekte und zu einer Welt 2 der individuellen Wahrnehmungen und des Bewusstseins postulierte er eine Welt 3 der geistigen und kulturellen Gehalte, die von Einzelbewusstsein unabhängig existieren. Gedichte, Romane, wissenschaftliche Theorien, Mythen, Baupläne, Sinfonien, Gemälde, Skulpturen usw., gehören ihrer materiellen Existenz nach zur Welt 1, ihrem geistigen, kulturellen oder ästhetischen Inhalt nach aber zur Welt 3 [2] .

Wenn allerdings Baupläne ihrem geistigen Inhalt nach zur Welt 3 gehören, dann gehören auch die nach diesen Plänen gebauten Häuser oder Maschinen in diesem Sinne zur Welt 3, denn in ihnen steckt derselbe geistige Gehalt wie in den Plänen, nach denen sie gebaut wurden. Das gilt selbst für profane Alltagsgenstände: Auch das Schnittmuster für ein Kleid oder die Zeichnung für einen Stuhl ist ein geistiges Produkt. Und letztlich verwirklicht sich in jedem Produkt, das Menschen herstellen ein Zweck und eine Idee davon, wie dieser Zweck erreicht werden kann. Es gibt immer einen Plan,auch wenn dieser nur im Bewusstsein des Arbeiters existiert.

Es ist nicht einmal nötig, dass ein Ding durch menschliche Arbeit geformt ist: Ein Stock oder ein Stein, der von der Erde aufgehoben wird in der Absicht, ihn als Werkzeug zu benutzen, verwandelt sich in diesem Augenblick in ein Ding, das einem Zweck, der Verwirklichung eines Plans dient. und die Blume im Haar eines Mädchens ist der Ausdruck (die Verkörperung) ihres Wunsches, hübsch auszusehen. So werden physische Dinge zum Ausdruck von etwas Geistigem: von Ideen, Zielen, Wünschen [3].

Offenbar gibt es eine Menge Dinge um uns herum, die zweifellos physisch sind, die aber zugleich ein Wesensmerkmal des Geistigen aufweisen, nämlich einen intentionalen Gehalt: Sie sind auf etwas gerichtet, das von ihnen selbst verschieden ist. In einem dualistischen, streng in Materie und Geist geteilten Universum, aber auch in Poppers Drei-Welten-Ontologie wirken diese Objekte seltsam zwitterhaft, wie Chimären aus Materie und Geist. Im nächsten Kapitel werde ich behaupten, dass nicht nur Produkten des menschlichen Geistes diese scheinbare Doppelnatur eigen ist, sondern allen physischen Objekten, die ein Mindestmaß an Struktur besitzen. Es ist sozusagen die natürlichste Sache der Welt.

 

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Fußnoten

  1. Popper, Karl u. Eccles, Sir John: Das Ich und sein Gehirn, München, Piper 1982.  [⇑]
     
  2. Manche meinen, dass Poppers Welt 3 aus einer anderen Sorte von Objekten besteht, und zwar aus kollektiven Ideen wie z.B. der Evolutionstheorie als solcher (nicht in einem Buch oder in jemandes Bewusstsein), dem Buddhismus als solchem (nicht in Büchern, auch nicht, was einzelne Buddhisten glauben) oder kollektiven Vorstellungen, z.B. der von Beethovens 5. Sinfonie (nicht die Partitur, auch nicht konkrete Aufführungen, Aufnehmen, oder Erinnerungen an konkrete Aufführungen, sondern die Sinfonie als solche).
       Objekte dieser Art werden manchmal als der eigentliche Inhalt von Poppers Welt 3 angesehen, doch ich denke, sie existieren nicht. Sie sind nur eine Erscheinung der Sprache: Wir reden über Beethovens 5.  Sinfonie wie über etwas, das existiert, doch in Wahrheit gibt es nichts als die Partitur (als Manuskript und in Form vieler gedruckter Ausgaben), viele einzelne Aufführungen (in unterschiedlichem Stil und von unterschiedlicher Qualität), Aufnahmen, Schallplatten, CDs, individuelle, subjektive Hörerlebnisse, -erinnerungen und -vorstellungen sowie eine Menge Sekundärliteratur über die 5. Sinfonie (ich hoffe, ich habe nichts vergessen). Die 5. Sinfonie als solche jedoch existiert nicht.
       Abstrakte Objekte (Universalien) existieren nicht. Sie sind Wörter unserer Sprache und vereinfachen unsere Kommunikation und unsere Beschreibung der Welt ungemein. Als Wörter aber existieren sie wiederum auch nur als konkrete Wörter, die tatsächlich gedruckt, geschrieben, gesprochen oder in jemandes Kopf gedacht werden. Auch das Wort ,Sinfonie‘ als solches, als abstrakte Entität existiert nicht.
       Man kann nun fragen, wie die Wörter und jene kollektiven Ideen und Vorstellungen, die sie benennen, zustande kommen. Meine Antwort ist: Sie entstehen durch Kommunikation. Kommunikation steht am Anfang – aus ihr entwickelt sich die Sprache, ein System aus abstrakten Symbolen, und nicht etwa umgekehrt. Kommunikation ist die Grundlage, auf der sich die Sprache (ein System abstrakter Zeichen) entwickelt. Die Kommunikation ist also das Primäre, die Sprache das Sekundäre. Auch auf dieses Thema werde ich später zurückkommen.  [⇑]
     
  3. Es besteht kein Wesensunterschied zwischen Michelangelo, der den Marmor formte, um seine Idee oder innere Vorstellung einer schönen Skulptur zu verwirklichen, und dem Mädchen, das sich die Blume ins Haar steckt, um ihre Idee oder innere Vorstellung vom Schön-Aussehen zu verwirklichen (auch wenn sie damit weitaus weniger Arbeit hatte als Michelangelo).
       John Searle schreibt, „dass wir in Artefakten unsere eigene Intentionalität erweitern. Da unsere Werkzeuge Erweiterungen unserer Zwecke sind, finden wir es natürlich, ihnen metaphorisch Intentionalität zuzuschreiben.“ *. Mit ,metaphorisch Intentionalität zuschreiben‘ meint Searle, dass man z.B. von einem Computer sagt, er würde denken oder etwas wissen. Solche Zuschreibungen können nur metaphorisch sein. Allerdings speichert und verarbeitet ein Computer oft Daten, durch die Inhalte codiert sind, z.B. Texte, die von etwas handeln. Es sind also Daten über etwas, und in diesem Sinne haben sie einen intentionalen Gehalt.
       Wie Searle bin ich der Ansicht, dass Maschinen weder denken noch etwas im semantischen Sinne wissen oder verstehen. Doch ich halte die Tatsache für bedeutsam, dass Artefakte Verkörperungen unserer Intentionalität sind und diese in ihrer Form oder Struktur gewissermaßen ,zum Ausdruck bringen‘. Wir gestalten und verändern uns selbst und unsere Umgebung nach unseren Vorstellungen, Wünschen und Plänen, und auf diese Weise werden wir und unsere Umgebung zu einer Verkörperung unserer inneren Vorstellungen, Wünsche und Pläne. Die Materie spiegelt unseren Geist.
       *) John Searle, Geist, Gehirn und Program, in: Thomas Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes Band 3, Paderborn: Mentis 2010; S. 46.  [⇑]
     

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