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3. Leben

3.1. Das Wissen lebender Strukturen

In den ersten beiden Kapiteln ging es darum, dass Intentionalität (das Enthaltensein eines Inhalts in einer Form) und Informationsverarbeitung Eigenschaften aller strukturierten Materie sind [1]. In Kapitel 3 werde ich nun die These vertreten, dass das Verstehen von Information die Eigenschaft von Lebewesen ist, und zwar im Prinzip von Anbeginn der Evolution lebender Systeme. Ich werde behaupten, dass nur Lebewesen fähig sind, Informationen in Bedeutung, in Zeichen, und in digitale Daten zu verwandeln.

Aus der Sicht der Physik ist das Leben ziemlich uninteressant. Von den vier physikalischen Grundkräften – der starken und schwachen Kernkraft, der Gravitation und der elektromagnetischen Wechselwirkung – spielen die ersten beiden in biologischen Prozessen keine Rolle, denn sie betreffen nur den Atomkern. Die Gravitation hat eine gewisse Bedeutung: Als sie das trockene Land zu erobern begannen, mussten die lebenden Systeme der Erdanziehungskraft eigene Kräfte entgegensetzen, und die Formenvielfalt der Landpflanzen und der Landtiere, Vögel und Insekten erklärt sich zum Teil aus den vielfältigen Strategien, die Gravitation gewissermaßen zu überlisten und ihr zum Trotz in die Höhe zu wachsen, sich im Gleichgewicht frei zu bewegen oder sogar zu fliegen. Doch der Einfluss der Gravitation scheint eher äußerlich zu sein – sie ist nicht die Kraft die das Leben von innen her antreibt.

Es bleibt also nur eine physikalische Grundkraft übrig, die als die treibende Kraft des Lebens in Frage kommt: die elektromagnetische Wechselwirkung. Deshalb ist das Leben physikalisch uninteressant: Alles ist nichts als Elektromagnetismus. Die Komplexität der biologischen Prozesse erklärt sich anscheinend nicht aus der sie antreibenden Kraft, sondern aus etwas anderem. Dieses andere ist die raum-zeitliche Organisation der Prozesse, die durch die biologischen Formen und Strukturen gewährleistet wird, z.B. durch das Membransystem der Zelle oder die räumlichen Formen der Proteine.

Physikalisch kann man all diese Formen und Strukturen, die das physikalische und chemische Geschehen in Lebewesen eingrenzen und ihm eine bestimmte Richtung geben, als Randbedingungen bezeichnen – aus der Sicht der Biologie aber sind sie entscheidend. Sie sorgen dafür, dass die physikalische Kraft in bestimmte Richtungen wirkt: dass sie nämlich die sie lenkenden Formen und Strukturen reproduziert, sie wachsen und sich vervielfältigen lässt. Es handelt sich um eine Wechselwirkung von Formen und Strukturen einerseits und Prozessen andererseits, und weil Formen und Strukturen Information sind, geht es dabei immer um Informationswirkung und -verarbeitung.

Das bekannteste Beispiel für Informationsverarbeitung in Lebewesen ist die Synthese der Eiweiße auf der Basis der DNS-Information. Manchmal heißt es, die genetische Information enthalte den Bauplan für ein Lebewesen, und ich habe mich immer gefragt, wie das funktionieren soll: Ein Lebewesen ist ein hochkomplexes dreidimensionales Gebilde – alle seine Teile, wie Knochen, Organe, Blut- und Nervenbahnen sind dreidimensional. Die DNS-Sequenz ist dagegen nur eindimensional, nur eine lineare Abfolge von Nukleotidbasen-Triplets, aus der sich eine lineare Abfolge von Aminosäuren ergibt und nicht mehr [2].

Die Basensequenz der DNS bestimmt die räumliche Form eines Proteinmoleküls vor allem dadurch, dass durch sie festgelegt ist, welche Aminosäuren in einer Kette benachbart sind. Davon wiederum hängt es ab, ob benachbarte Aminosäuren an einer, an zwei oder an drei Stellen aneinander gebunden sind. Sind sie nur an einer Stelle verbunden, dann sind sie gegeneinander in allen Richtungen frei beweglich und drehbar (wie bei einem Kugelgelenk), sind sie an zwei Stellen verbunden, dann sind sie nur auf einer Ebene gegeneinander beweglich (wie bei einem Scharnier), sind sie an drei Stellen verbunden, dann ist die Verbindung starr.

Die Nachbarschaften legen also fest, wie frei sich das Kettenmolekül an jeder einzelnen Verbindungsstelle bewegen kann. Es bewegt sich natürlich nicht aktiv, sondern wird durch die Brownsche Molekularbewegung im Zellplasma bewegt. Dabei nimmt es unterschiedliche zufällige Durchgangsgestalten an und gelangt dabei allmählich in eine stabile räumliche Form. Diese Form ist bestimmt (a) durch die räumlichen Formen der einzelnen Aminosäurenmoleküle und (b) durch deren elektromagnetische Eigenschaften, aus denen verschiedene Arten von Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren resultieren: ionische, polare und Van-der-Waals-Wechselwirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen sowie hydrophobes oder hydrophiles Verhalten. So werden sich etwa benachbarte hydrophobe Aminosäuren, wenn ihre Bewegungsfreiheit es zulässt, eng aneinander legen, sodass möglichst wenig Wasser zwischen ihnen ist; benachbarte hydrophile Aminosäuren werden dagegen Distanz zueinander halten.

Eine bestimmte lineare Anordnung von Aminosäuren in einer Kette hat also Folgen, die wiederum die Ursachen sind für die räumliche Form des Proteinmoleküls – und diese räumliche Form ist dann entscheidend dafür, dass das Molekül seine Funktion im zellulären Geschehen erfüllen kann. Es scheint also gerade so, als sei das Wissen um die zukünftige Form und Funktion bereits in der DNS-Sequenz kodiert. Wie ist das zu verstehen, wenn man nicht annimmt, dass die Sequenz von einem ,intelligenten Designer‘ geschrieben wurde? Können wir dem DNS-Molekül selbst ein Wissen über die Eigenschaften der Aminosäuren und über die Funktion des kodierten Proteins zuschreiben? Was ist ,Wissen‘?

Wenn ein Mensch oder ein Tier ein bestimmtes Wissen besitzt, dann erkennen wir es daran, dass er, sie oder es sich in einer gegebenen Situation regelmäßig ,richtig‘ verhält – nämlich so, dass ein Ziel erreicht wird. Das kann ein spezielles Ziel sein oder nur das allgemeine Ziel des Vermeidens von Leid oder einfach des Am-Leben-Bleibens [3]. Wenn ich annehmen, dass mein Wissen in Form neuronaler Strukturen (z.B. Neuronen-Verschaltungen, Synapsen-Einstellungen) in meinem Gehirn gespeichert ist, dann folgt daraus, dass diese Strukturen in meinem Gehirn die Basis dafür ist, dass ich mich ,richtig‘ verhalte.

Doch nicht nur in meinem Gehirn ist Wissen strukturell gespeichert. Nahezu alle Formen und Strukturen meines Körpers – von den großen Formen der Knochen, Muskeln, inneren Organe, des Nervensystems und des Blutkreislaufs bis hinunter zu den allerkleinsten Formen der Zellen und ihrer Bestandteile – repräsentieren Wissen darüber, wie diese Teile geformt und strukturiert sein müssen, damit sie ihre Funktion im Organismus erfüllen können.

Wir finden also ganz allgemein in einem lebendigen Organismus einen Zusammenhang zwischen Struktur und Wissen: Alle Teile sind ihrem Zweck entsprechend geformt [4]. Aber auch in Maschinen finden wir diesen Zusammenhang, und hier ist klar: Es ist der Konstrukteur – also ein ,intelligenter Designer‘, der weiß, wie die Bauteile geformt sein müssen, damit sie ihren Zweck erfüllen.

Wenn wir jedoch einem Etwas, das es sich aufgrund seiner Form und Struktur in einer Weise verhält, die uns sinnvoll erscheint. weil dadurch ein Zweck erreicht wird, Wissen zuschreiben, dann müssen wir dies auch im Falle der DNS tun, denn sie verhält sich aufgrund ihrer Struktur genau richtig: Sie katalysiert die Synthese jener Aminosäuren-Ketten, die sich dann zu den Proteinen falten, die in der Zelle ihre Funktion erfüllen können [5].

Diese Proteine – ihre Form und Funktion – bilden zugleich die Basis für das Wachstum der Makrostrukturen eines vielzelligen Organismus wie etwa des menschlichem Körpers. Auch all das vorausschauende Wissen, das hierfür nötig ist, scheint also in der DNS enthalten zu sein – auch wenn sie kein Bauplan ist, sondern eher ein Entwicklungs- und Selbstorganisationsprogramm. Wie aber kommt all das Wissen in die DNS hinein – immer unter der Voraussetzung, dass kein intelligenter Designer die Sequenz geformt hat?

Bevor wir uns im nächsten Abschnitt dieser Frage zuwenden, fassen wir zusammen: Als ‘Wissen’ wollen wir diejenige Art von Information, d.h. von Form oder Struktur bezeichnen, die es einem Ding oder System ermöglicht, Zwecke zu erfüllen oder Ziele zu erreichen.

 

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Fußnoten

  1. Zumindest aller Materie, von der wir sagen können, sie sei irgendwie geformt oder strukturiert. ,Materie‘ ist hier im philosophischen Sinne gemeint, umfasst also sowohl Stoff als auch Energie.  [⇑]
     
  2. Wir sind heute zwar in der Lage, Bilder und auch dreidimensionale Objekte eindimensional durch eine Sequenz aus Einsen und Nullen zu kodieren, aber das geht nur, weil das Ziel – das fertige Bild oder das Objekt, das auf dem 3D-Drucker erzeugt werden soll – eindeutig bestimmt ist und auf der Basis des Codes unmittelbar realisiert wird. Dadurch können jedem Pixel Koordinaten zugeordnet werden. Ein natürliches Lebewesen wird aber nicht auf dem 3D-Drucker erzeugt, sondern es wächst aus einer einzigen Zelle und durchläuft dabei quasi unendlich viele verschiedene räumliche ,Zwischenzustände‘, die unmöglich alle in der DNS kodiert sein können.  [⇑]
     
  3. Wir wollen Menschen und Tieren hier einfach solche Ziele unterstellen, auch wenn sie sich deren oft nicht bewusst sind. In einem späteren Abschnitt werde ich diese Frage ausführlicher behandeln.  [⇑]
     
  4. Eine Ausnahme bilden Rudimente, die einst eine Funktion hatten, diese aber im Verlauf der Entwicklung verloren haben.  [⇑]
     
  5. Das bedeutet gerade nicht, dass die in der DNS enthaltene Information von der Zelle ,verstanden‘ wird – die Fähigkeit zu verstehen wollen wir Molekülen nicht zuschreiben (vergl. das Zitat von C. F. v. Weizsäcker im Abschnitt 2.1). Es ist vielmehr so, dass die Struktur der DNS im Prozess der Proteinsynthese etwas bewirkt – es handelt sich also um Informationswirkung. Information kann physikalisch wirken, weil Information die Form oder Struktur von Materie, d.h. von Stoff oder/und Energie ist.  [⇑]
     

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